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Chancen, Grenzen und Hindernisse von zielgruppenspezifischen Bildungsangeboten

Zielgruppenspezifik

Zielgruppenspezifische Zugänge sind in der politischen Bildung eine Grundvoraussetzung, damit die Teilnehmenden ein eigenständiges Lerninteresse entwickeln. Sie werden jedoch dann problematisch, wenn sie gesellschaftliche Zuschreibungen fortschreiben und Fremd- und Eigengruppen konstruieren anstatt diese kritisch zu hinterfragen.

Politische Bildung will Menschen erreichen, Wissen vermitteln und dazu befähigen, eigene (kritische) Werturteile treffen zu können. Damit politische Bildung ihre Wirkung entfalten kann und allen Menschen gleichermaßen zugänglich ist, muss sie sich auch an den jeweiligen Zielgruppen orientieren. Sie muss dem Alter der Teilnehmenden genauso angepasst sein, wie ihrem Lernniveau und ihren Sprachkompetenzen. Gute politische Bildung sollte den Lernort reflektieren, Heterogenität und Diversität in den Lerngruppen berücksichtigen und darüber hinaus lebensweltlich orientiert sein. Sie soll nah am Menschen agieren, anerkennend und wertschätzend mit den Teilnehmenden umgehen und vorhandenes Wissen miteinbeziehen. Zielgruppenspezifische, sprich der Lerngruppe angepasste Bildungsangebote scheinen aus dieser Perspektive daher nicht nur sinnvoll, sondern eine absolute Notwendigkeit, um einen erfolgreichen Bildungsprozess zu ermöglichen.

Für politische Bildung zum Thema Antisemitismus in einer heterogenen Gesellschaft stellen sich über die zielgruppenadäquate Aufbereitung des Lernmaterials nach den bereits genannten Kriterien noch weitere Fragen. Diese betreffen nicht nur die thematische Auswahl, etwa welche Facette des Antisemitismus thematisiert werden soll, sondern vor allem die Herstellung einer geeigneten Lernmotivation: Warum soll ich mich eigentlich mit dem Thema Antisemitismus beschäftigen und welche Rückschlüsse ziehe ich aus der Beschäftigung?

Herstellung von Lernmotivation

Viele Menschen nehmen Antisemitismus nicht als aktuell relevantes Problem wahr, etwa weil sie sich nicht selbst von ihm betroffen fühlen, weil das Thema negative Gefühle in ihnen weckt oder weil eigenen Problemen oder Diskriminierungserfahrungen mehr Relevanz eingeräumt wird. Um eine eigenständige Lernmotivation zu fördern, kann es sinnvoll sein, zielgruppenspezifische Angebote zu unterbreiten, die an individuellen, politischen, kulturellen und/oder religiösen Bezügen sowie jeweils an die persönlichen Interessen der Teilnehmenden anknüpfen. Der individualisierte Zugang zum Thema erleichtert dabei den reflexiven Umgang mit Selbst- und Fremdbildern und schafft in diesem Rahmen die Voraussetzung für einen kritischen Umgang mit Antisemitismus.

Ein möglicher Zugang kann dabei die Jugend- bzw. Populärkultur sein. So stellen beispielsweise menschenverachtende Aussagen und Antisemitismus im Hip-Hop/Rap eine gute Möglichkeit dar, mit einem jugendkulturellen Bezug Differenz- und Gruppenkonstruktionen sichtbar zu machen. Darüber hinaus können auch konkrete antisemitische Feindbilder analysiert werden, die in diesem Genre oft verdeckt im Rahmen von verschwörungsideologischen Motiven auftauchen.

Auch eigene Migrationserfahrungen können Ausgangspunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit aktueller Judenfeindschaft sein. Über die Frage von Zugehörigkeit zur bzw. Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft lässt sich nicht nur Rassismus thematisieren. Auch im Antisemitismus haben wir es mit kollektivieren Zuschreibungen und Verallgemeinerungen zu tun. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu rassistischen Formen der Ausgrenzung können gemeinsam mit den Teilnehmenden erarbeitet werden. Darüber hinaus ist die Geschichte des Judentums eng verbunden mit dem Leben in der Diaspora, aber auch der Nahostkonflikt erzählt Geschichten von Flucht, Vertreibung und Migration, sowohl von jüdischen als auch nicht-jüdischen Menschen. All dies bietet Anknüpfungspunkte für die politische Bildungsarbeit zur kritischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus.

Ein weiterer Zugang bietet sich etwa dann an, wenn die Teilnehmenden sich selbst als religiös verstehen. So zielen zum Beispiel interreligiöse Begegnungsansätze direkt auf die religiöse Identität der Teilnehmenden ab und versuchen über die Betonung von Gemeinsamkeiten - aber auch durch das Kennenlernen von Unterschieden - Stereotype und Feinbilder abzubauen. Bekenntnisorientierte Ansätze zielen gleichermaßen auf das Gebot religiöser Toleranz ab und beschäftigen sich aus theologischer oder religionswissenschaftlicher Perspektive sowohl mit eigenen Glaubensvorstellungen als auch mit Bildern über ‚die Anderen‘. Die Beschäftigung mit Antisemitismus muss an dieser Stelle jedoch nicht auf religiöse Quellen beschränkt bleiben. Sie bieten darüber hinaus auch die Möglichkeit, alltägliche und säkulare Formen von Judenfeindschaft zu thematisieren.

Zielgruppenspezifische Zugänge für Muslime?

In den letzten Jahren wird vermehrt über den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und dem Islam debattiert. Insbesondere der islamisierte Antisemitismus und der israelbezogenen Antisemitismus sorgen dafür, dass die Verbreitung von Judenfeindschaft in der von außen homogenisierten Gruppe ‚der Muslime‘ vermehrt in den Fokus der Auseinandersetzung rückt und insbesondere für sie gezielte Aufklärungs- und Bildungsangebote gefordert werden.

Wie bereits angeführt, kann dabei ein persönlicher Bezug zum Islam tatsächlich ein möglicher Ausgangspunkt für die kritische Beschäftigung mit Antisemitismus sein, so lange er in einem selbstgewählten und respektvollen Rahmen stattfinden und mit entsprechendem Wissen und entsprechender Anleitung begleitet wird. Eine Herausforderung bleibt hierbei die richtige Balance zu finden, zwischen Empowerment und kritischer Selbstbeschäftigung auf der einen Seite sowie der generellen Infragestellung kollektivierender Identitäten und gesellschaftlicher Fremdzuschreibungen auf der anderen Seite.

Problematisch kann die Forderung nach solchen spezifischen Angeboten werden, wenn sie lediglich defizitorientiert ist und dazu genutzt wird, das Problem des Antisemitismus allein auf muslimische Menschen auszulagern. Antisemitische Bilder und Einstellungen finden wir, das zeigt die empirische Einstellungsforschung, in allen Teilen der Gesellschaft. Zwar lassen sich bei einzelnen Facetten des Antisemitismus in Hinblick auf Religion und Herkunft durchaus Verbreitungsunterschiede messen, doch daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, eine Gruppe wäre antisemitischer als die andere, ist nicht sehr zielführend.

Viel wichtiger ist es im Kontext politischer Bildungsarbeit spezifische Merkmale und Bezugsrahmen zu identifizieren, aufzugreifen und zu reflektieren. Während etwa muslimisch-sozialisierte Menschen häufiger Aussagen des israelbezogenen Antisemitismus zustimmen, lässt sich in der deutschen Mehrheitsgesellschaft deutlich stärker die Zustimmung zu geschichtsrelativierenden Einstellungen messen. Darüber hinaus erreichen sowohl der israelbezogene als auch der sekundäre Antisemitismus in Deutschland Zustimmungswerte von rund 40% und verdeutlichen damit abermals, dass es sich hier keineswegs um das Problem einer Minderheit handelt. Antisemitismus kann dabei immer auch als falsche Weltdeutung fungieren, auf die besonders im Rahmen von antisemitischen Verschwörungsideologien grundsätzlich von allen Menschen zurückgegriffen werden kann.

Das Sprechen über Antisemitismus bei ‚den Muslimen‘ legt darüber hinaus nahe, die Religion wäre der maßgebliche Einflussfaktor für das Vorhandensein antisemitischer Ressentiments. Die darin enthaltene Schlussfolgerung, dass sich aus dem Glauben und der religiösen bzw. kulturellen Identität die Judenfeindschaft ableitet lässt, welche dann auch von allen Menschen dieser Gruppe geteilt wird, erscheint wenig plausibel. Natürlich gibt es auch religiöse Begründungen für Judenfeindschaft, aber weder gibt es ‚die eine‘ Religionsauslegung, noch sind Menschen eindimensional und allein durch ihren Glauben determiniert. Sämtliche weiteren Faktoren, die ebenfalls maßgeblichen Einfluss auf Fremd- und Selbstbilder haben können und damit auch als Variable für die Verbreitung antisemitischer Ressentiments herangezogen werden müssten, geraten durch den Fokus auf ‚den Islam‘ aus dem Blick: Adoleszenz, (familiär) tradierte Werte, Rollen- und Geschlechterbilder, politische Einstellungen, egalitäre, konservative oder nationalistische Gesellschaftsvorstellungen usw. Alle diese und viele weitere Einflussfaktoren werden nicht mehr berücksichtig.

Politische Bildung sollte, anstatt sich an solchen Zu- und Festschreibungen zu beteiligen, das Individuum in den Mittelpunkt stellen. Bildungskonzepte und Materialien zur kritischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus sollten daher versuchen, die gesellschaftliche Diversität zu reflektieren sowie Zugänge und Anknüpfungspunkte für heterogene Lerngruppen zu schaffen. Sie sollten (defizitäre) Zuschreibungen vermeiden und die Möglichkeit selbstbestimmter und selbstkritischer Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex schaffen. Eine permanente Selbstreflektion der Lehrenden ist daher unumgänglich. Die Stärkung der (Kompetenz der) Widerspruchstoleranz kann dabei ein möglicher Zugang sein, der die Ich-Stärke der Teilnehmenden wie auch der Lehrenden in den Fokus der Auseinandersetzung rückt und vereinseitigenden Weltdeutungen entgegenwirkt.

Zum Weiterlesen

Saba-Nur Cheema: Gleichzeitigkeiten: Antimuslimischer Rassismus und islamisierter Antisemitismus - Anforderungen an die Bildungsarbeit. In: Überblick 4/2017 (IDA-NRW), S. 7-14. PDF

Monique Eckmann: Herausforderungen im Umgang mit Rassismen und Antisemitismen – Formen der Interaktion. In: Fritz Bauer Institut (Hg.): Antisemitismus und andere Feindseligkeiten. Interaktionen von Ressentiments. Frankfurt am Main 2015, S. 157-174.

Bernd Fechler: Antisemitismus im globalen Klassenzimmer. Identitätspolitik, Opferkonkurrenzen und das Dilemma pädagogischer Intervention. In: Fritz Bauer Institut (Hg.): Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus. Frankfurt am Main 2006, S. 187-209.

Anne Goldenbogen: Der gordische Knoten. Von Projektionen, Positionen und Potenzialen in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und dem Nahostkonflikt. In: KIgA e.V. (Hg.): Widerspruchstoleranz. Ein Theorie-Praxis-Handbuch zu Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit. Berlin 2013, S. 33-41. PDF

Michael Kiefer: Antisemitismus und Migration. Berlin 2017. PDF

Meron Mendel/Astrid Messerschmidt (Hg.): Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt am Main 2017.

Jochen Müller: Empörung wirkt nicht – Was tun gegen Antisemitismus (und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit)? In: Ufuq.de, 25.04.2018. Online

 

 

Bildnachweis: William Felker / unsplash.com

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