Perspektiven und Reflexionen
Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft
Einerseits war die deutsche Gesellschaft noch nie so divers und liberal wie heute. Andererseits haben autoritäres Denken und menschenfeindliche Einstellungen in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Dies gilt auch für Antisemitismus, dessen Ausdrucksformen sich gewandelt haben und vielfältiger geworden sind. „Der Konsens“, ihn „aus der Öffentlichkeit auszuschließen, ist fragil – eine Fassade, die vieles durchlässt, wovon eher weniges als gegenwärtiger Antisemitismus erkannt und benannt wird“ (S. 13), so Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, und Astrid Messerschmidt, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Wuppertal.
Was bedeutet dieser Befund für die politische Bildung gegen Judenfeindschaft in Zeiten von Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und Islamismus? Welche Anforderungen werden an sie gestellt, mit welchen Herausforderungen ist sie konfrontiert?
Zur Diskussion dieser Fragen haben die Herausgeber/innen 14 Beiträge zusammengestellt, die aus der interdisziplinären Tagungsreihe „Blickwinkel. Antisemitismuskritisches Forum für Bildung und Wissenschaft“ der Jahre 2014 bis 2016 hervorgegangen sind. Die Autoren/innen entstammen verschiedenen Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften, viele von ihnen sind in unterschiedlichen Institutionen der historisch-politischen Bildung tätig.
Entsprechend facettenreich sind die einzelnen Aufsätze. Aktuelle Spielarten des Antisemitismus werden in ihnen ebenso behandelt, wie Möglichkeiten und Grenzen der kritischen Auseinandersetzung mit ihm vor dem Hintergrund von Kommunikation, Adoleszenz, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Religion, Erinnerungskultur, Ideologien der Ungleichwertigkeit und postkolonialer Diskurse.
Deutlich spiegelt sich die Debatte um Potentiale und Fallstricke zielgruppenspezifischer Zugänge in mehreren Texten wider. Eine der zentralen Schlussfolgerungen lautet, dass Bildungsangebote, die das Prinzip der Gleichheit wahren wollen, die Heterogenität der Zielgruppen und Lebenswelten beachten, von Mehrfachzugehörigkeiten der Teilnehmenden ausgehen und die Gleichzeitigkeit verschiedener, in Beziehung stehender Ressentiments und Diskriminierungsformen berücksichtigen müssen. Von den Lehrenden verlangt dies sowohl eine „anerkennungspädagogische und reflexive Haltung“ als auch die „doppelte Perspektive eines antisemitismus- und rassismuskritischen Ansatzes“ (S. 72), wie Saba-Nur Cheema, Leiterin der Pädagogischen Programme der Bildungsstätte Anne Frank, betont. In der konkreten Umsetzung bedeutet dies etwa „auf eine antisemitische Äußerung eines/einer muslimisch markierten Jugendlichen zu reagieren bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass der/die Jugendliche betroffen ist von Rassismus und Stigmatisierung“ (ebd.).
In der Gesamtschau gibt der lesenswerte Band einen guten Überblick über die anhaltende Diskussion selbstreflexiver und multiperspektivischer Ansätze in der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. Für das Verständnis der wissenschaftlichen Beiträge ist spezifisches Wissen um den Themenkomplex von Vorteil. Obwohl keine explizite Methodensammlung, hält der Titel für Pädagogen/innen wie Andragogen/innen zahlreiche Anregungen für die Praxis bereit.
Die kostengünstige Lizenzausgabe des Buches ist bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich.
Meron Mendel/Astrid Messerschmidt (Hg.):
Fragiler Konsens.
Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft.
Frankfurt am Main: Campus Verlag 2017
Alexander Lorenz-Milord ist Historiker, Redakteur bei Medaon - Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung und in der historisch-politischen Bildungsarbeit aktiv.
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