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Die Krisenhaftigkeit der Moderne im Fokus

Sozial-ökonomische Erklärungsansätze

Antisemitismus aus gesellschaftlichen und ökonomischen Kontexten heraus zu verstehen ist Ziel sozialwissenschaftlicher Erklärungsansätze. Gerade in Krisenzeiten führen demnach Abstiegs- und Verlustängste zu starker Identifikation mit Konzepten wie Volk oder der Nation und zu Aggressionen gegenüber Jüdinnen und Juden.

Viele sozialwissenschaftliche Zugänge versuchen den modernen Antisemitismus auch aus den ökonomischen und sozialen Gegebenheiten der kapitalistischen Moderne heraus zu erklären. Ein wesentliches Merkmal moderner Gesellschaften ist die sehr enge Verzahnung und die wechselseitige Abhängigkeit von Wirtschaft und Politik. Ökonomisches Handeln hat somit einerseits Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, während die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse wiederum die Wirtschaft beeinflussen.

Für die Herausbildung von Antisemitismus wird den Konjunkturen wirtschaftlicher Entwicklungen eine besondere Bedeutung zugesprochen. Im Fokus verschiedener Erklärungsansätze stehen vor allem die zum Kapitalismus notwendigerweise gehörenden Krisen und die daraus folgenden negativen Auswirkungen für das Leben der Menschen. Antisemitische Weltbilder deuten ökonomische und soziale Krisen in einer irrationalen, stark vereinfachenden Weise. In diesem Denken werden als vermeintlich konkret Schuldige für Krisen ‚die Juden’ identifiziert.

Anstatt die abstrakten und häufig schwer zu verstehenden sozialen Verhältnisse selbst zu kritisieren, geraten so Jüdinnen und Juden in den Fokus, die als vermeintlich ‚Mächtige‘ schuldig gesprochen werden. Attraktiv an diesem Denkmuster ist, dass es sich vordergründig gegen ‚die Herrschenden‘ richtet. Antisemiten/innen können sich damit besonders oppositionell und widerständig vorkommen.

Krisentheorien

Manche dieser Erklärungsansätze gehen kausalen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Situation und Judenfeindschaft aus und betrachtet den Antisemitismus als ein gesellschaftliches „Abfallprodukt“1 in der Reaktion auf die ökonomischen Krisen seit dem 19. Jahrhundert. Mitglieder der Gesellschaft würden in Zeiten grundlegender Unsicherheit sich stark emotional mit Konzepten wie Volk oder Nation identifizieren und sich gegen vermeintliche Störer/innen, wie ‚Außenseiter‘, ‚Fremde‘, und insbesondere gegen Jüdinnen und Juden wenden. Kurz gesprochen: Je heftiger die ökonomische oder soziale Krise, desto stärker trete der Antisemitismus in Erscheinung.

Diese Vereinfachung wird von Kritiker/innen allerdings bemängelt. Zum einem es gibt keinen direkten empirischen Nachweis für die Behauptung eines Zusammenhangs zwischen der wirtschaftlichen Konjunktur und einem gehäuften Auftreten von Antisemitismus. Zum anderen bieten solche Ansätze wenig Raum für subjektorientiere Erklärungsansätze und Deutungsmuster. Sie unterscheiden weder zwischen subjektiver Krisendeutung und tatsächlicher Krise, noch erklären sie, unter welchen Bedingungen Menschen gewisse Situationen als krisenhaft erleben und warum sie in solchen (spezifischen) Kontexten antisemitische Ressentiments zur Deutung heranziehen.

Theorien der relativen und subjektiven Deprivation

In der Psychologie versteht man unter Deprivation Zustände der Entbehrung und des Mangels. Die Theorien der relativen und subjektiven Deprivation beschäftigen sich mit den realen oder den wahrgenommenen Statuskrisen und subjektiven Erfahrungen von Menschen. Im Unterschied zu Krisentheorien, die Antisemitismus unmittelbar aus ökonomischen und sozialen Krisen ableiten, geht es bei den Theorien der subjektiven und relativen Deprivation um das Scheitern der geistigen Anpassungsleistungen eines Menschen an die gesellschaftlichen Bedingungen bzw. an den sich stetig vollziehenden Wandel moderner Gesellschaften.

Die zunehmende Komplexität und die Widersprüche moderner Gesellschaften werden in erster Linie als Zumutungen wahrgenommen. Die damit verbundenen Schwierigkeiten oder das Unvermögen bei der subjektiven Verarbeitung können zur Bereitschaft führen, judenfeindliche Weltanschauungen zur Erklärung des eigenen Scheiterns heranzuziehen. Der subjektiv erlebte Verlust von Status, die gefühlten Ängste und die Unsicherheiten, die angesichts einer sich beschleunigenden und verschärfenden Modernisierung empfunden werden, bilden den Nährboden für Antisemitismus. Die dazu passende soziale Figur ist die des ‚Modernisierungsverlierers’.

Gemessen an seiner historischen Entwicklung betonen Kritiker/innen hingegen, dass mitnichten die sogenannten ‚Modernisierungsverlierer‘ alleine für Antisemitismus anfällig waren und sind. Für den Umstand, dass sich antisemitisches Denken auch in Milieus, die nicht von Abstieg bedroht oder sogar wohlhabend sind feststellen lässt, bieten die Ansätze der relativen und subjektiven Deprivation keine ausreichende Erklärung. Als Kritikpunkt gilt, dass sie gleich der Krisentheorie, den Ursprung für die Verbreitung von Judenfeindschaft in den sozialen und ökonomischen Krisen ausmachen und lediglich differenzierter auf die unterschiedlichen subjektiven Verarbeitungen eingehen. Der Politikwissenschaftler Lars Rensmann hat die Kritik mit Blick auf die Geschichte und stabile Verbreitung der Judenfeindschaft pointiert zusammengefasst: „Wäre Antisemitismus nur oder primär eine Reaktion auf konkrete, aktuelle soziale Spannungen und Krisen, dann hätte die soziale Krise in Deutschland zweihundert Jahre dauern müssen“.2

Potenzial und Grenzen der Theorien

Einen Zusammenhang zwischen Krisen, Konflikten, personifizierter Ökonomiekritik und Antisemitismus erscheint auf den ersten Blick sehr plausibel. Dass Krisen- und Deprivationstheorien vergleichsweise oft zur Erklärung für die Virulenz des Antisemitismus herangezogen werden, liegt unter anderem daran, dass sie inhaltlich an die Theorie ‚des Juden’ als gesellschaftlichen Sündenbock anschließen. Zur Ablenkung der komplexen Ursachen der Krise wird das Dagegensein und der Hass auf eine bestimmte Minderheit, in diesem Falle Jüdinnen und Juden, abgewälzt. Abgesehen davon, dass mit der Gleichsetzung ‚der Juden’ mit der Figur ‚des Kapitalisten’ ein zentrales antisemitisches Motiv bedient wird, stoßen diese Theorien jedoch schnell an ihre Grenzen.

Die Frage, warum ausgerechnet Jüdinnen und Juden die Rolle des Sündenbocks zugewiesen bekommen, kann damit aber nicht ausreichend geklärt werden, ebenso wie die Hartnäckigkeit, die Merkmale und Mechanismen des Antisemitismus. Mit ihrer oftmals kausalen Verknüpfung von ökonomischer Krise und der Entstehung des Antisemitismus sind die Krisen- und Deprivationstheorien nur bedingt geeignet, moderne Formen der Judenfeindschaft zu erklären. Dies wird insbesondere in der Vernachlässigung der subjektorientieren und sozialpsychologischen Deutungsmuster (z.B. Projektion, Identifikation, Paranoia), die es erst ermöglichen, mit antisemitische Einstellungen die eigenen subjektiven Krisenerfahrungen zu erklären, deutlich.

Anmerkungen

1 Thomas Gräfe: Antisemitismus in Deutschland 1815 – 1918. Rezensionen – Forschungsüberblick – Bibliographie, 2. Aufl. Norderstedt 2010, S. 125.

2 Lars Rensmann: Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004, S. 98.

 

Zum Weiterlesen

Thomas Gräfe: Antisemitismus in Deutschland 1815 – 1918. Rezensionen – Forschungsüberblick – Bibliographie, 2. Aufl. Norderstedt 2010.

Klaus Holz: Theorien des Antisemitismus. In: Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3. Berlin 2010, S. 316-328.

Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch. In: Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main 1988, S. 242-254. Online

Lars Rensmann: Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2004.

Samuel Salzborn: Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Frankfurt am Main 2010.

 

Bildnachweis: cw-design / photocase.de

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