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Zwischen Anerkennung, Polarisierung und Antisemitismus

Nahostkonflikt und Antisemitismus

Kaum einem Thema wird global so viel Aufmerksamkeit gewidmet wie dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Neben manichäischen Deutungen und einseitiger Rezeption kommt es bei Bezugnahmen auf ihn auch immer wieder zu antisemitischen Äußerungen oder Handlungen.

Die Entscheidung des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, die Botschaft von Tel-Aviv nach Jerusalem zu verlegen, sorgte seit Dezember 2017 weltweit für Aufsehen und führte zum Teil zu harschen Protesten. In Berlin kam es auf Demonstrationen auch zu antisemitischen Äußerungen und zu öffentlichen Verbrennungen israelischer Flaggen. Schlagzeilen machte ebenfalls der Fall eines Berliner Schülers, der seine Schule verließ, da er wiederholt antisemitischen Anfeindungen und Gewalttaten seiner Mitschüler/innen ausgesetzt war. Auch hier begründeten die Täter ihre Handlungen vornehmlich mit dem Handeln Israels und ‚der Juden‘ im Nahostkonflikt.

Die Ereignisse und öffentlichen Debatten zur Entscheidung Donald Trumps sind geradezu symptomatisch für das Spannungsfeld Nahostkonflikt: Es scheint, als würde jedes politische Ereignis im diesem Rahmen ähnliche Debatten, Fragen und Proteste nach sich ziehen. Bei kaum einem anderen Konflikt scheinen die Fronten so verhärtet. Der palästinensisch-israelische Konflikt ist heute weit mehr als einer der unzähligen mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikte weltweit. Er ist Gegenstand antagonistischer Deutungen, Kristallisationspunkt unterschiedlichster politischer und religiöser Interessen, zudem medial außerordentlich präsent, identitätsbildend und -stabilisierend, Folie für allerlei Fantasien und Positionierungen. Hier, so scheint es, verdichten sich die ethisch-moralischen Grundsatzfragen unserer Zeit, Fragen des Verhältnisses von Identität und Zuschreibung, Wahrheit und Lüge, Recht und Unrecht, Schuld und Sühne, Geschichte und Gegenwart, Macht und Ohnmacht, Opfer und Täter. Eine brisantes, höchst explosives und zutiefst emotionales Gemisch.

Antisemitische Bezugnahmen, Äußerungen, Handlungen oder Positionierungen zum Nahostkonflikt sind dabei so häufig zu verzeichnen, dass sie mittlerweile als spezifische Form des Antisemitismus gelten und unter dem Begriff des israelbezogenen Antisemitismus zusammengefasst werden. Der Nahostkonflikt, der Staat Israel und die palästinensischen Gebiete dienen als projektiver Bezugsrahmen. Nach 1945 ist offener Antisemitismus in Deutschland weitestgehend tabuisiert und wird stattdessen durch Anspielungen, Chiffren, Codes oder argumentative Umwege geäußert. Der israelbezogene Antisemitismus ist eine solche Form der Umwegkommunikation. Als antisemitisch lässt sie sich dann identifizieren, wenn vermeintliche Kritik an Israel mit Bildern des klassischen Antisemitismus arbeitet, wenn Jüdinnen und Juden weltweit für die Handlungen des Staates Israel in Haftung genommen werden oder wenn Israel das Existenzrecht aufgrund seiner (Selbst-)Verortung als jüdischer Staat abgesprochen wird.

Aus vereinseitigenden und verkürzenden Positionierungen sowie aus eindeutig antisemitischen Äußerungen und Bezügen auf den Nahostkonflikt entsteht dabei eine komplexe, nahezu unübersichtliche Gemengelage. Verschiedene, sich zum Teil diametral gegenüberstehende Narrative, werden mit unterschiedlichsten Bezügen aufgeladen. Hinzu kommt, dass beim Sprechen über den Konflikt in der Regel implizit Fragen von Identität, Zusammenleben, Migration und Erinnerungskultur in Deutschland verhandelt werden, welche den projektiven Charakter noch einmal verschärfen. Ein konfliktgeladenes Themenfeld, das nicht nur Pädagogen/innen vor besondere Herausforderungen stellt.

Realer Konflikt und Projektionsfläche für Judenfeindschaft

Der israelisch-palästinensische Konflikt ist nicht ausschließlich eine Projektionsfläche, er ist Realität für viele Menschen, die individuell und kollektiv von ihm betroffen sind. Auch wenn bei Bezugnahmen auf den Nahostkonflikt häufig vereinseitigende Positionierungen, Verkürzungen, Instrumentalisierungen, Polarisierungen und Ressentiments eine Rolle spielen, besitzen nicht alle Bezugnahmen auf ihn einen grundsätzlich projektiven Charakter. Gleichzeitig produziert und reproduziert der Konflikt beständig Bilder, an die problematische und antisemitische Deutungen anschließen könne und die sie vermeintlich bestätigen.

Dem Historiker Dan Diner zufolge stehen sich im Konflikt zwei große Narrative gegenüber: Das kollektive Bewusstsein auf israelischer Seite gründe auf der Erfahrung einer historischen Minderheit und sei geprägt von dem Willen, Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung nie wieder zuzulassen. Demgegenüber speise sich das palästinensische Selbstverständnis aus einer Prämisse historischer Legitimität und aus einer demographischen Mehrheitsposition, die lediglich unter den aktuellen politischen Bedingungen nicht zum Tragen komme. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina könne auch deswegen nicht mehr nur singulär als ‚nationaler Konflikt‘ definiert werden, der lediglich Fragen von Territorium und Grenzverläufe verhandele. Diese Fragen würden überlagert von Debatten um Gerechtigkeit und historischen Ansprüchen um Landnahme und Kolonialismus, um Flucht und Migration, um Religion, Identität und Legitimität. Hinzu komme, dass der Konflikt selbst durch Asymmetrie politischer und militärischer Machtverhältnisse sowie einer Ungleichverteilung von Ressourcen geprägt sei und auch vor dem Hintergrund globaler politischer Interessen im Nahen Osten eine Verschärfung erfahre.1

Diese sowieso schon komplexe, festgefahrene, oftmals kriegerisch geführte Auseinandersetzung erlangen Diner zufolge eine weitere Polarisierung und Radikalisierung durch die Bebilderung mit antijüdischen Stereotypen, die entweder frühislamisch geprägt, oder im Zuge eines Transfers aus dem Westen im 'Orient' übernommen und dort internalisiert wurden. Somit sei der Nahostkonflikt weder als Ursache noch als Folge antisemitischer Denkmuster in der arabisch-muslimischen Welt zu deuten, sondern vielmehr als deren Katalysator: „Antisemitisch im klassischen Sinne des Wortes sind die in der Auseinandersetzung zwischen Arabern und Juden, Israelis und Palästinensern aufschäumenden Bebilderungen insofern, als sie nicht aus dem Konflikt im engeren Sinne hervorgehen, sondern ihm von außen, also zeitlich und räumlich von weither, aufgebürdet werden.“2

Dass sich Bezugnahmen auf den tatsächlichen Konflikt und antisemitische Klischeevorstellungen oft diffus vermengen, kann die Unterscheidung zwischen eindeutig antisemitischen und nicht-antisemitischen Haltungen mitunter erschweren. Hinzu kommt, dass als Folge in der Rezeption des Nahostkonflikts eine wechselseitige Beeinflussung von antisemitischen Bildern und tatsächlicher Geschehnisse im Nahostkonflikt geschieht: „Wir sind also mit einer sich gegenseitig bedingenden Beziehung des Imaginären und des Realen konfrontiert. Der reale Nahostkonflikt speist die ideologische Aneignung der imaginären Konstruktion ‚des Juden‘ und die Aneignung des Glaubens an die Existenz ‚des Juden‘ beeinflusst die Wahrnehmung des Nahostkonflikts.“3

Zwischen (kollektiver) Betroffenheit, Solidarisierung und Erinnerungskonkurrenz

In einer von und durch Migration geprägten Gesellschaft können auch Konflikte eine Rolle spielen, deren Zentren geografisch weit entfernt erscheinen. Dies ist auch beim Nahostkonflikt der Fall. Es gibt auch in Deutschland persönliche oder familiäre Betroffenheit, etwa bei hier lebenden Palästinenser/innen und Israelis, und vielfältige Formen der Bezugnahmen und Solidarisierungen mit den verschiedenen Konfliktparteien. Darüber hinaus wird der Konflikt häufig als Projektionsfläche genutzt, um Fragen von Zugehörigkeit und Anerkennung zu verhandeln.

So ermittelten verschiedene Studien, dass sich antisemitische Bezugnahmen auf den Nahostkonflikt bei sich selbst als muslimisch verstehenden Jugendlichen häufig aus der Erfahrungen eigener Benachteiligung und Abwertung speisen. Diese werden dabei mit antisemitischen Bildern und Erzählungen aufgeladen und umgedeutet. Eigene Diskriminierungserfahrungen, etwa aufgrund der Religionszugehörigkeit, erscheinen so als Teil eines größeren Narratives im transnationalen Kontext, bei dem sowohl ‚die Juden‘, als auch die USA bzw. ‚der Westen‘ als globale Verfolger und Widersacher von Muslime/innen dargestellt werden. Antisemitismus wird hier zur falschen Weltdeutung, der eigenen Erfahrungen von Ausgrenzung oder Abwertung einen vermeintlich tieferen Sinn verleiht. Überdies kann es auch zu Solidarisierungseffekten kommen, wenn der so rezipierte ‚Kampf gegen die Unterdrückung‘ von Palästinensern/innen sinnbildlich für Anerkennungskämpfe von ‚den Muslimen‘, ‚den Arabern‘ oder gar ‚den Ausländern‘ steht.

Aus dieser Gemengelage kann ein Phänomen erwachsen, welches gleichermaßen auf den Nahostkonflikt rekurriert und in der (antisemitismuskritischen) Bildungsarbeit als Opfer- bzw. Erinnerungskonkurrenz bekannt ist. ‚Den Juden‘, so die Wahrnehmung, würde in Deutschland, aber auch global, als einziger Gruppe ein allgemeiner Opferstatus zuerkannt, während andere Diskriminierungserfahrungen, rassistische und soziale Ausgrenzungen oder kollektive Leidens-, Flucht- und Vertreibungsgeschichten ausgeblendet und ignoriert würden. Vor dem Hintergrund des Umgangs in Deutschland mit dem Holocaust würden nichtjüdische Diskriminierungserfahrungen, so der Eindruck, verblassen. Die kollektive nationale Erinnerung an die NS-Verbrechen und die jüdischen Opfer, wird als ausschließliche Form der Anerkennung von Opfern wahrgenommen und dass – so die weitere Argumentation – obwohl ‚die Juden‘ heute angeblich doch selbst Täter/innen im Nahen Osten seien. Derartige Formen der Erinnerungskonkurrenz speisen sich aus verschiedenen Bezügen und Perspektiven, so auch aus mehrheitsdeutscher Perspektive, über die Forderung einer Anerkennung der Leiden deutscher Kriegsopfer und Vertriebener. Sie können aus dem Motiv heraus geäußert werden, durch den Verweis auf vermeintlich ‚israelische Verbrechen‘ sich von der Verantwortung für die deutsche Geschichte freizusprechen. Bei solch antisemitisch konnotierten Äußerungen werden die Verbindungen zum sekundären Antisemitismus deutlich.

Zwischen antisemitischer und antimuslimischer Instrumentalisierung

Instrumentalisierende Bezugnahmen auf den Nahostkonflikt bzw. auf den Staat Israel und seine Politik können die Funktion einer antisemitischen Umwegkommunikation erfüllen. Es gibt jedoch auch verkürzende und stereotypisierende Bezugnahmen auf den Nahostkonflikt, die sich in erster Linie aus antimuslimischen, rassistischen Ressentiments speisen. In einer zugespitzten Form dieser Instrumentalisierung des Konflikts werden der jüdische Staat als ‚Bollwerk der europäischen Aufklärung‘ bzw. ‚des Westens‘ gegen einen ‚rückständigen', ‚mittelalterlichen' Islam dargestellt. Ein solches Verständnis des Konflikts geht einher mit rassistischen Ressentiments in der Gesellschaft und wird insbesondere in den letzten Jahren immer von rechtspopulistischen Akteuren genutzt. Dass es dabei weder um das tatsächliche Israel, die israelische Bevölkerung noch um eine alle Seiten zufriedenstellende Lösung des Konflikts geht, sondern vielmehr um die eigene Weltanschauung, wird bewusst verschleiert und als vermeintliche Unterstützung im Kampf gegen den 'islamischen Antisemitismus‘ deklariert.

Analysekompetenz und Sensibilität

Die Bandbreite der Bezugnahmen auf den Nahostkonflikt ist vielfältig. Auch die Beweggründe, sich auf der einen oder anderen Seite zu positionieren, sind breit gestreut und reichen von persönlicher Betroffenheit bis dahin, über die Bezugnahme auf den Konflikt Fragen von gesellschaftlicher Anerkennung oder Teilhabe zu verhandeln. Viele diese Positionierungen oder Bezugnahmen sind vereinseitigend oder verkürzend. Problematisch wird es aber vor allem dann, wenn der Nahostkonflikt dazu instrumentalisiert wird, um sich antisemitisch oder auch rassistisch zu äußern oder der Konflikt als die eigentliche Ursache für Antisemitismus uminterpretiert wird. Hier gilt es – ob in der pädagogischen Praxis oder der politischen Auseinandersetzung – die notwendige Sensibilität zu entwickeln, da die Übergänge zwischen einseitiger Kritik und Antisemitismus häufig fließend und nicht immer auf den ersten Blick eindeutig zu unterscheiden sind. Zweifelsfrei müssen antisemitische Äußerungen im Kontext des Nahostkonflikts genauso kritisiert werden, wie jedwede andere Form ausgrenzenden und vorurteilsbehafteten Denkens. Hierbei handelt es sich nicht um eine legitime Meinungsäußerung oder eine aufgrund von persönlicher Betroffenheit manifesten Positionierung, sondern schlichtweg um ein Ressentiment, das über Umwege versucht, Menschen aufgrund zugeschriebener Merkmale auszugrenzen, zu demütigen oder zu verfolgen.

Anmerkungen

1 Dan Diner: Der Sarkophag zeigt Risse. Über Israel, Palästina und die Frage eines »neuen Antisemitismus«. In: Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Frankfurt am Main 2004, S. 310-329, hier S.312f.

2 Ebd., S. 317.

3 Alexander Pollak: Antisemitismus. Probleme der Definition und Operationalisierung eines Begriffs. In: John Bunzl/Alexandra Senfft (Hg.): Zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Vorurteile und Projektionen in Europa und Nahost. Hamburg 2008, S. 17-32, hier S. 31.

 

Zum Weiterlesen

Muriel Asseburg/Jan Busse: Der Nahostkonflikt. Geschichte, Positionen, Perspektiven. München 2016.

Noah Flug/Martin Schäuble: Die Geschichte der Israelis und Palästinenser. München/Wien 2007.

Anne Goldenbogen: Der gordische Knoten. Von Projektionen, Positionen und Potenzialen in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und dem Nahostkonflikt. In: KIgA e.V. (Hg.): Widerspruchstoleranz. Ein Theorie-Praxis-Handbuch zu Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit. Berlin 2013, S. 33-40. PDF

Jochen Müller: Zwischen Berlin und Beirut – Antisemitismus bei Jugendlichen arabischer, türkischer und/oder muslimischer Herkunft. In: Der Bürger im Staat 4 (2013), S. 303-310. PDF

Mirko Niehoff (Hg.): Nahostkonflikt kontrovers. Perspektiven für die politische Bildung. Schwalbach/Ts. 2016.

Peace Research Institute in the Middle East (PRIME) (Hg.): Die Geschichte des Anderen kennen lernen. Israel und Palästina im 20. Jahrhundert. Frankfurt/New York 2015.

 

 

Bildnachweis: zettberlin / photocase.de

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