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Abba Naor bei der Aufzeichnung des digitalen interaktiven Zeugnisses.

Neben Texten, Tonband- und Filmaufnahmen ein weiteres Medium: Lernen mit interaktiven Zeugnissen von Holocaustüberlebenden

Markus Gloe führt in diesem Artikel in das Lernen mit interaktiven digitalen Zeugnissen von Holocaustüberlebenden ein und erläutert Potenziale und Grenzen dieses Zugangs, auch im Hinblick auf die historisch-politische Bildung.

Zeitzeug:innen, die über ihre Erfahrungen im Holocaust sprechen können, wird es in absehbarer Zeit keine mehr geben. Die Verantwortung dafür, die Erinnerungen an die Verbrechen des Nationalsozialismus sowie das Wissen darüber im kulturellen Gedächtnis zu erhalten, liegt bei der Gesellschaft. Bereits seit dem Ende des Nationalsozialismus wurden Versuche unternommen, die Erinnerungen zu bewahren. Zuerst mit Tonbandaufnahmen und geschriebenen Texten, dann mit Filmaufnahmen. Neuerdings stellen digitale interaktive Anwendungen eine weitere Möglichkeit dar, die Erinnerungen dieser Menschen für die kommenden Generationen zu bewahren, sie auf interaktive Art zugänglich zu machen und damit eine Erinnerung zu ermöglichen.

Interaktive Herangehensweise an die Zeugnisse der Holocaustüberlebenden

Seit 2012 wurden in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, seit 2018 in Deutschland digitale Aufzeichnungen von Holocaustüberlebenden erstellt, die eine räumliche Darstellung ermöglichen. Anschließend wurden die Aufnahmen interaktiv aufbereitet. Das heißt, dass Nutzer:innen ihre Fragen per Spracheingabe oder Tastatur stellen und so ihren individuellen Interessen nachgehen können. Aus den aufgezeichneten Antworten der Holocaustüberlebenden werden dann auf die Frage passende Antworten abgespielt.

Das vorrangige Ziel dieser Projekte ist es, eine interaktive Herangehensweise an die Zeugnisse der Holocaustüberlebenden zu ermöglichen, die auch nach ihrem Ableben fortbesteht, und eine Verbindung zwischen interessierten Menschen und den Zeitzeug:innen sowie ihren Berichten herzustellen.[1] Solche interaktiven digitalen Zeugnisse unterscheiden sich deutlich von den bisherigen linearen Überlebenden-Interviews, die in ihrer fest vorgeschriebenen Reihenfolge und meistens in ihrer Gesamtheit betrachtet werden.

Das interdisziplinäre Projekt „Lernen mit digitalen Zeugnissen“ (LediZ)

Neben der USC Shoah Foundation in den USA und der Forever Holding in Großbritannien entwickelt, produziert und beforscht seit Mitte 2018 auch das interdisziplinäre Projekt „Lernen mit digitalen Zeugnissen“ (LediZ) an der Ludwig-Maximilians-Universität München solche interaktiven digitalen Zeugnisse.[2] Bei der Entstehung wirken viele verschiedene Akteurinnen und Akteure mit, so dass eine „multiple Autor:innenschaft” konstatiert werden muss. Neben den Zeitzeug:innen selbst sind dies die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der LMU München, des Leibniz Rechenzentrums und der Produktionsfirmen, die durch die bei den Filmaufnahmen gestellten Fragen oder die technischen Beschränkungen Einfluss auf das interaktive digitale Zeugnis nehmen. Mittlerweile können interaktive Zeugnisse der beiden jüdischen Holocaustüberlebenden Abba Naor und Eva Umlauf sowie der Sintezza Zilli Schmidt eingesetzt werden.[3]

Funktionsweise

Für die Erstellung dieser interaktiven digitalen Zeugnisse wurden bei LediZ den Überlebenden etwa eintausend Fragen gestellt, deren Antworten zunächst stereoskopisch, das bedeutet mit zwei Kameras, die im Augenabstand voneinander entfernt angebracht sind, um die Aufnahmen anschließend dreidimensional wiedergeben zu können, aufgezeichnet wurden. Die einzelnen Antwortsequenzen werden auf einem Videoserver gespeichert und können über Spracheingabe abgerufen werden. Nutzer:innen können über ein Mikrofon eigene Fragen an das System richten. Eine Spracherkennungssoftware übersetzt die Frage in einen Text und ein Algorithmus prüft, ob eine passende Antwort vorliegt, und spielt dann das entsprechende 3D- oder 2D-Video auf einer Projektionsfläche ab. Die eintausend gestellten Fragen wurden nach einem speziellen System variiert, um möglichst viele Formulierungen abzudecken. Falls keine passende Antwort verfügbar ist, erhält die Benutzer:in ebenfalls eine Videoantwort, dass keine entsprechende Aufzeichnung vorhanden ist oder die Frage anders gestellt werden sollte. Es werden keine neuen Antworten aus dem vorhandenen Material generiert. Nach einer Frage-Antwort-Session werden die Zuordnungen im System manuell überprüft, ob die vom System zugeordneten Antworten auch auf die Frage gepasst haben, neue Fragenvariationen in das System aufgenommen und eventuelle Fehler korrigiert, um das System zu verbessern.

Einsatzmöglichkeiten

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die interaktiven Zeugnisse zu nutzen, entweder alleine oder auch in Lerngruppen als Einzelarbeit mit einem digitalen Endgerät in 2D. Alternativ können die interaktiven Zeugnisse auch in 2D oder 3D in Lebensgröße projiziert werden. Dann können Lerngruppen gemeinsam über ein Handy Fragen einsprechen oder eingeben. Interaktive digitale Zeugnisse bieten vielfältige Möglichkeiten des Einsatzes in verschiedenen Bildungssettings. Das Projekt haben Didaktiker:innen der Fächer Deutsch, Geschichte, Politik und Gesellschaft initiiert. Ein Einsatz in den Fächern Ethik, Religion und Informatik ist aber genauso lohnend wie der Einsatz in außerschulischen Veranstaltungen. In jedem Fall ist es wichtig die interaktiven Zeugnisse entsprechend vor- und nachzubereiten. Entsprechende Vorschläge für unterschiedlich Fächer in der Schule wurden dazu ausgearbeitet und liegen vor.[4] Zudem sollte immer mit der Aufforderung „Können Sie mir Ihre Geschichte erzählen?“ gestartet werden, um den nötigen Kontext für die späteren Fragen zu stellen. Im Anschluss ist ein Gespräch über das Gesehene (Fokus: Medien, Gefahr von Deepfake) und das Gehörte (Fokus: Erlebnisse der Zeugin oder des Zeugen in Vergangenheit und Gegenwart, Gefühle/Eindrücke der Lernenden) ratsam. Interaktive digitale Zeugnisse sind ein weiterer Zugang neben Texten, Tonband- und Filmaufnahmen.[5]

Kritik

Die vermeintliche Grenzenlosigkeit der technischen Reproduzierbarkeit von Quellen oder gar der „Vergangenheit“ ruft jedoch auch innerhalb des Diskurses um interaktive digitale Zeugnisse Kritik hervor. Zum einen wird mit Schlagwörtern wie Trivialisierung oder Entertainment kritisiert, dass die interaktiven digitalen Zeugnisse unangemessen für die Erinnerung an den Holocaust seien.[6]

Auch wird den interaktiven digitalen Zeugnissen entgegengebracht, dass die Produktion zu teuer und bereits ausreichend überliefertes Material der Überlebenden vorhanden sei. Parallel dazu erweist sich die technische Unzulänglichkeit der Anwendung als Gegenstand der Kritik. Obwohl die Präzision der Antworten sowie die Darstellungsform im Vergleich zu den Anfangsphasen der Projekte erhebliche Fortschritte verzeichnen, sind sie dennoch nicht gänzlich fehlerfrei.

In empirischen Studien zeigt sich aber, dass kleinere technische Unstimmigkeiten die Erkenntnis fördern, dass die interaktiven Zeugnisse auf maschinellen Prozessen beruhen und neben anderen Quellen nur ein weiterer Zugang zu den Erinnerungen und Erfahrungen der Holocaustüberlebenden ist. So wird auch einer übermäßigen Emotionalisierung, die ein inhärentes Problem historisch-politischer Bildung darstellt, entgegengewirkt und dem Beutelsbacher Konsens mit seinen Grundsätzen Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und Schülerinteressenartikulationsgebot Rechnung getragen.

Es selbst ausprobieren!

Alle sind eingeladen, sich selbst ein Bild unter https://apps.lediz.uni-muenchen.de/abba/  zu machen. Mit dem Benutzername „Gast“ und dem Passwort „LEDIZ“ (jeweils ohne Anführungszeichen) erhalten Sie Zugang und können es selbst ausprobieren. Für weitere Auskünfte können Sie sich gern an das Team von LediZ wenden.

 

Dr. Markus Gloe ist Professor für Politische Bildung und Didaktik Politik & Gesellschaft am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft in München und einer der Leiter des interdisziplinären Projekts „Lernen mit digitalen Zeugnissen“ (LediZ) der Ludwig-Maximilians-Universität München.

[1] Ballis, Anja/ Barricelli, Michele/ Gloe, Markus (2019): Interaktive digitale 3-D-Zeugnisse und Holocaust Education – Entwicklung, Präsentation und Erforschung. In: Ballis, Anja/ Gloe, Markus (Hg.): Holocaust Education Revisited. Wahrnehmung und Vermittlung – Fiktion und Fakten – Medialität und Digitalität. Wiesbaden: Springer, S. 403-436.

[2] Einen Beitrag über das Projekt aus dem Jahr 2020 gibt es in der Mediathek bei 3Sat unter https://www.3sat.de/wissen/nano/200818-zeitzeugen-nano-104.html [zuletzt: 25.08.2023].

[3] www.lmu.de/lediz [zuletzt: 25.08.2023].

[5] Gloe, Markus/ Heindl, Fabian (2023): Zeitzeug*innen des Holocaust – Digital? In: Beutel, Wolfgang/ Heldt, Inken/ Lange, Dirk (Hg.): Demokratie auf Distanz. Digitaler Wandel und Krisenerfahrung als Anlass und Auftrag politischer Bildung. Frankfurt/M.: Wochenschau, S. 155-165.

[6] Kansteiner, Wulf (2017): Transnational Holocaust Memory, Digital Culture and the End of Reception Studies. In: Sindbaek Andersen, Tea/ Törnquist-Plewa, Barbara (Hg.): The Twentieth Century in European Memory. Boston/Leiden, S. 305-343, hier: S. 321., Brumlik, Micha (2015): Hologramm und Holocaust. Wie die Opfer der Shoah zu Untoten werden. In: Baader, Meike Sophia/Freytag, Tatjana (Hg.): Erinnerungskulturen: Eine pädagogische und bildungspolitische Herausforderung, Köln/Weimar, S. 19-30, hier: S. 27.

Foto: Bright White Ltd.

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