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Personalisierende Wirtschaftskritik

Die verbrannte Leiche von Ocarina Island

Eine Kriminalgeschichte lädt die Teilnehmenden zur Reflexion über die Kluft zwischen moralischen Ansprüchen und kapitalistischen Zwängen ein. Sie erkennen, dass wirtschaftliche Entscheidungen immer auch Auswirkungen auf das Leben von Menschen haben. Die Methode eignet sich besonders als Einführung in die Problematik einer „verkürzten“ Wirtschaftskritik und zur Überleitung zum Themenkomplex Wirtschaftskritik und Antisemitismus.

Allgemeine Informationen

Konzeptioneller Zugang

Für eine gelungene Auseinandersetzung mit Antisemitismus bedarf es einer kritischen Beschäftigung mit den ihm zugrundeliegenden Denkfiguren. Zentrales Element der antisemitischen Ideologie ist die Personifizierung von als negativ empfundenen Erscheinungen der modernen Gesellschaft in ‚den Juden‘. Grundlage hierfür ist ein Fehlverständnis der kapitalistischen Ökonomie: Abstrakte und unverstandene ökonomische Prozesse werden im antisemitischen Weltbild mit dem angeblichen Handeln Einzelner, nämlich ‚der Juden‘, erklärt. Die Methode sensibilisiert anhand eines nicht-antisemitischen Beispiels auf einer grundlegenden Ebene für die Problematik personalisierender Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen. Im Zuge der Lösung eines fiktiven Kriminalfalls reflektieren die Teilnehmenden die für unsere Produktionsweise typische Kluft zwischen moralischen Ansprüchen und ökonomischen Zwängen. Im gemeinsamen Gespräch erkennen sie die Unzulänglichkeit einseitig personenbezogener Schuldzuschreibungen in der Wirtschaftskritik und reflektieren eigene Haltungen.

Lernziele

Die TN wissen, dass ökonomisches Handeln nicht primär durch Charaktereigenschaften Einzelner, sondern durch gesellschaftliche Prinzipien, Gesetzmäßigkeiten und Zwänge bedingt ist. Sie sind sich bewusst, dass alle Akteure/innen den Bedingungen von Konkurrenz und Profitorientierung unterliegen und diese oftmals in Widerspruch zum Anspruch sozialer Gerechtigkeit stehen. Sie verstehen, dass eine personalisierende Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen zu kurz greift.

Material

Material-Download, Flipchartpapier, Filzmarker, Ampelkarten

Zeit

85 Min

 

Gruppenarbeit

Übung (45 Min)

Alle TN erhalten ein Textblatt mit der Kriminalgeschichte „Die verbrannte Leiche von Ocarina Island“ (siehe Material). Die Teamenden bitten nun nacheinander Freiwillige, den Text abschnittsweise laut vorzulesen.

 

Zum Inhalt:

Die Hauptfigur der Geschichte ist der Schauspieler und Stimmenimitator Martin, der sich den Traum vom eigenen Hotel erfüllt. Sein selbstloser Einsatz für seine Freund*innen und Bekannten führt sein Hotel allerdings an den Rand des Ruins. Eines Tages verschwindet Martin und seine Cousine Lena taucht auf, um die Geschäftsführung zu übernehmen. Sie managt das Hotel unter rein professionellen Aspekten und ohne jede Rücksicht auf freundschaftliche Bindungen. Martin kehrt als ihr Vertreter nur noch dann zurück, wenn seine Cousine auf dem Festland verweilt. Als nach einem Mordanschlag ein verbrannter Leichnam entdeckt wird, ist zunächst unklar, ob es sich um Martin oder Lena handelt. Wer ist das Opfer? Wer hat die Mordtat begangen und warum?

 

Im Anschluss an die gemeinsame Lektüre weisen die Teamenden darauf hin, dass die ermittelnde Polizei bereits Zeug*innen befragt und deren Aussagen protokolliert habe. Die Polizeiprotokolle, mit deren Hilfe der Fall gelöst werden kann, sollen nun in Gruppenarbeit aufmerksam gelesen und ausgewertet werden.

Hierfür bilden die TN zunächst mehrere, möglichst gleich große Arbeitsgruppen (jeweils max. sechs Personen). Jede Gruppe erhält einen Satz Polizeiprotokolle mit Arbeitsauftrag (siehe Material), einen Bogen Flipchartpapier und einen Filzmarker. Aufgabe ist es, auf Grundlage der polizeilichen Aussagenprotokolle herauszufinden, wie der Fall zu lösen ist. Ihre Ergebnisse halten sie auf dem Plakat fest, indem sie dort Opfer, Täter*in und mögliche Tatmotive benennen.

 

Hinweis: Je nach Selbstständigkeit der TN kann es sich anbieten, im Vorfeld der Gruppenarbeit gemeinsam zu überlegen, wie man die Polizeiprotokolle analysieren und einen solchen Fall lösen kann (mögliche Motive herausarbeiten, Alibis überprüfen, auf eventuelle Widersprüchlichkeiten achten). Außerdem steht dazu eine tabellarische Strukturierungshilfe (siehe Material) bereit, die vor oder während der Arbeitsphase an der Tafel notiert oder den Gruppen in Papierform zur Verfügung gestellt werden kann). In jedem Fall jedoch sollten die Teamenden darauf achten, es den TN auch nicht zu einfach zu machen: Vermeiden Sie konkrete Hilfestellungen, wo diese nicht unbedingt nötig sind! Wählen Sie sprachliche Formulierungen stets so, dass diese nicht ungewollt Hinweise auf die Lösung des Kriminalfalls liefern (z. B. auf Geschlecht oder Anzahl möglicher Täter*innen). Die Handlung der Kriminalgeschichte ist an Bertolt Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ angelehnt. In seiner Parabel problematisiert Brecht die Unvereinbarkeit von moralischem Handeln und Existenzsicherung („gut zu sein und doch zu leben“) in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Siehe dazu die Hintergrundinformationen für Teamende (siehe Material), in denen auch noch einmal der Bezug der Übung zum Thema Antisemitismus umrissen wird.

 

Präsentation (10 Min)

Nach der Gruppenarbeitsphase finden sich alle TN wieder im Plenum zusammen. Nacheinander stellen sich nun die Gruppen gegenseitig ihre Plakate und Ergebnisse vor.

Die Auflösung des Kriminalfalls ist: Martin und Lena sind ein und dieselbe Person. Seine Cousine hat Martin bloß erfunden und er ist in ihre Rolle geschlüpft, um das Hotel zu retten. Der zu erratende Täter ist der von Lena enttäuschte Angestellte Thomas, der durch eine Unstimmigkeit im Alibi (Tischtennisspielen mit Sehnenscheidenentzündung) überführt werden kann.

Von Thomas liegt ein Geständnis vor, das zugleich Auskunft über sein Tatmotiv gibt und abschließend laut verlesen wird (siehe Material). Falls keine der Gruppen Martin und Lena als ein und dieselbe Person bzw. als Opfer erkannt hat, wird diese Doppelidentität durch gezieltes Nachfragen enttarnt.

 

Fragen

  • Ist euch bei Martin und Lena etwas aufgefallen?
  • Warum waren Sachen von beiden in einem Zimmer?
  • Warum waren Martin und Lena nie gleichzeitig an einem Ort?

 

Hinweis: Bereits vor den Präsentationen der Gruppenplakate sollten die Teamenden sich einen kurzen Überblick über die erzielten Ergebnisse verschafft haben. Weil die Kriminalgeschichte verschiedene Opfer-Täter-Konstellationen nahelegt, werden die Arbeitsgruppen vermutlich zu unterschiedlichen Lösungen gelangen. Achten Sie im Stillen darauf, dass Gruppen mit den richtigen Antworten nicht als Erste präsentieren, um die Auflösung spannender und überraschender zu gestalten!

 

Auswertung (25 Min)

Die Auswertung der Übung im gemeinsamen Gespräch erfolgt schrittweise: Zunächst werden mithilfe von „Ampelkarten“ Meinungsbilder erstellt und Diskussionen angeregt. Danach werden die Inhalte der Kriminalgeschichte auf einer Metaebene analysiert und reflektiert.

Für den ersten Auswertungsschritt erhalten alle TN je drei Antwortkarten in den Ampelfarben Rot, Gelb und Grün, mit denen sie dann die folgenden Fragen beantworten. Die Karten stehen für die Antwortmöglichkeiten „Nein“ (Rot), „teils / teils“ (Gelb) oder „Ja“ (Grün). Wer sich zu einer Frage differenzierter positionieren und sowohl positive als auch negative Aspekte betonen möchte, kann statt der gelben Karte auch eine Ja-Nein- Kombination (Grün und Rot) verwenden.

Die Teamenden stellen nun nacheinander Fragen, welche die TN mit den ihrer jeweiligen Meinung entsprechenden Ampelkarten beantworten. Die Antworten sollten immer für alle gut sichtbar sein, also entweder in die Höhe gehalten oder (im Stuhlkreis) auf den Boden gelegt werden. Nach jeder Frage erhalten die TN Gelegenheit für kurze Erläuterungen und Diskussionen.

Wichtig ist, dass die in der Hauptfigur verkörperten Charaktere Martin und Lena hier als zwei völlig getrennte Personen zu behandeln sind.

 

Fragen

  • Hat euch die Übung gefallen? Warum?
  • War es schwierig, den Fall zu lösen? Warum?
  • Hättet ihr euch so wie Martin verhalten (z. B. hohe Lohnzahlungen)?
  • Hättet ihr euch eher wie Lena verhalten (z. B. Lohnkürzungen für Freunde)?
  • Hat Lena sich falsch verhalten?
  • Hat Martin sich richtig verhalten?

 

Im zweiten Auswertungsschritt werden die Ampelkarten beiseitegelegt und die Diskussion auf die Metaebene verlagert. Teamende und TN wenden sich nun der Doppelfigur Martin/Lena zu. Gemeinsam analysieren sie, was die beiden Seiten der Figur eigentlich repräsentieren: Während Martin für das Menschliche und Solidarische steht, verkörpert Lena das Egoistische und Ökonomisch-Rationale. Die zwei Facetten verweisen auf die Unvereinbarkeit von moralischem Verhalten und marktwirtschaftlichen Zwängen. Es wird darin deutlich, dass individuelles Handeln in kapitalistischen Wirtschaftsprozessen nicht allein vom persönlichen Wollen bestimmt wird, sondern zugleich wirkmächtigen Gesetzmäßigkeiten wie dem Konkurrenzprinzip unterworfen ist.

 

Fragen

  • Warum hat sich Martin ein anderes Ich ausgedacht?
  • Wofür steht Martin? („Gerechtigkeitsprinzip“)
  • Wofür steht Lena? („Ökonomische Gesetzmäßigkeiten und Zwänge“)
  • Kennt ihr das aus dem eigenen Alltag: eher an euch selbst zu denken als an andere? Habt ihr schon mal lieber euch selbst etwas Gutes getan, statt mit Freund*innen zu teilen?

 

Als Nächstes befassen sich Teamende und TN mit der Figur Thomas, also dem Täter: Er wollte Lena ermorden, weil er in ihr die eigentliche Ursache für seinen beruflichen Abstieg und die Verschlechterung seiner sozialen Lage sah. In der gemeinsamen Analyse arbeiten die TN heraus, dass Thomas – gemäß den kapitalistischen Prinzipien – wohl in jedem Fall finanzielle Einbußen hätte hinnehmen müssen oder dem wirtschaftlichen Ruin des Hotels zum Opfer gefallen wäre. Für seine Situation macht er jedoch nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse und wirtschaftliche Funktionsmechanismen verantwortlich. Stattdessen greift er Lena als Person an. Thomas deutet also ökonomische Prozesse primär als ein Resultat von Charaktereigenschaften.

 

Fragen

  • Stellt euch vor, Thomas wäre nicht enttarnt worden. Hätte sich für ihn mit dem Mord langfristig etwas geändert?
  • Wen macht Thomas verantwortlich für sein Leid?
  • Wie nimmt Thomas wirtschaftliche Strukturen wahr?

 

Hinweis: Die erste Phase der Auswertung erfolgt mithilfe von Ampelkarten, die entweder käuflich erworben oder mit farbigem Papier selbst gebastelt werden können (siehe Material). Beachten Sie, dass einer sorgfältigen Auswertung und Zusammenführung der Übung besondere Bedeutung zukommen, weil erst darin die eigentlichen Lernziele deutlich werden. Deshalb empfiehlt es sich, bereits im Verlauf der Auswertung wesentliche Ergebnisse und Erkenntnisse stichpunktartig an Tafel oder Flipchart festzuhalten.

 

Zusammenführung (5 Min)

Die Teamenden tragen die Ergebnisse der Auswertung noch einmal systematisch zusammen, indem sie insbesondere das Problem einseitiger Personalisierung herausarbeiten. Dabei stellen sie dar, dass ökonomisches Handeln nicht in erster Linie durch Charaktereigenschaften Einzelner (z. B. „böser Manager“), sondern vor allem durch gesellschaftliche Prinzipien (z. B. Konkurrenz) bedingt ist. So zeigt auch die Figur Martin / Lena in der Kriminalgeschichte: Wer seine wirtschaftliche Existenz sichern und ein Unternehmen langfristig halten möchte, muss sich ökonomischen Gesetzmäßigkeiten fügen und gewisse Anforderungen erfüllen (z. B. Profitorientierung). Weil diese Prinzipien den Handlungsrahmen aller Akteur*innen bestimmen, greift eine personalisierende Kritik zu kurz.

Auch wenn Moral und ethisches Verhalten keineswegs bedeutungslos sind, so stehen die Funktionsmechanismen und Zwänge der kapitalistischen Wirtschaft doch in einem Widerspruch zum Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit.

 

Quelle

KIgA e.V. (Hg.): Widerspruchstoleranz 3. Ein Methodenhandbuch zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit. Berlin 2019. PDF

 

 

Bildnachweis: Hoodh Ahmed / unsplash.com

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