Geschichte und Funktion von Antisemitismus
Woher kommt Judenfeindschaft?
Allgemeine Informationen
Konzeptioneller Zugang
Viele Menschen ignorieren nicht nur die aktuelle Verbreitung von Antisemitismus, sondern auch dessen lange Geschichte. Die Vielschichtigkeit des modernen Antisemitismus wird aber nur durchschaubar, wenn der Blick auch auf die Fülle antijüdischer Bilder gelenkt wird, die vergangenen Epochen entstammen und die in transformierter Form neuen Kontexten eingepasst wurden. Im Mittelpunkt der Methode steht deshalb eine historische Spurensuche. Ein besonderer Fokus liegt auf der Analyse der verschiedenen Funktionen, die Judenfeindschaft – damals und heute – für die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft erfüllt (hat). Dabei wird deutlich: Antisemitismus gibt keine Auskunft über das Tun und Lassen von Jüdinnen und Juden, sondern ausschließlich über diejenigen, die antisemitisch denken und handeln.
Lernziele
Die TN kennen historische Wurzeln des aktuellen Antisemitismus. Sie erkennen Kontinuitäten und Wandlungen in der Geschichte der Judenfeindschaft und können diese historisch einordnen. Sie erfassen Funktionen des Antisemitismus für die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft und sind sich darüber bewusst, dass Antisemitismus nichts mit dem Verhalten von Jüd*innen zu tun hat.
Material
Material-Download, Beamer/Smartboard, Internetverbindung, Tafel/Pinnwand, Moderationskarten, Schreibstifte und Filzmarker
Zeit
75 Min
Film und Gruppenarbeit
Einstieg (5 Min)
Die TN sitzen im Stuhlkreis zusammen, mit freiem Blick auf eine Tafel. Dort schreiben die Teamenden für alle gut lesbar den Begriff „Antisemitismus“ an. Sie fragen nun in die Runde, wer den Begriff kennt und wer ihn den anderen erklären kann. Sie unterstützen die TN gegebenenfalls dabei, den Begriff als Feindseligkeit gegenüber Jüd*innen zu verstehen.
Anschließend fragen die Teamenden danach, was eigentlich Jüd*innen sind bzw. was das Jüdischsein ausmacht. Es ist zu erwarten, dass hier in erster Linie die jüdische Religion genannt wird.
Fragen
- Wer von euch kennt diesen Begriff und kann den anderen erklären, was er bedeutet?
- Wer sind Jüd*innen? Was bedeutet Jüdischsein?
Im zusammenführenden Gespräch weisen die Teamenden darauf hin, dass die religiöse Zugehörigkeit zum Judentum zwar ein wichtiges Merkmal der Selbstdefinition darstellen kann, aber jüdische Identitäten vielfältig sind. So sind nicht alle Menschen, die sich als jüdisch verstehen, auch gläubig. Ebenso können kulturelle Bezüge oder familiäre Traditionen (wie das Begehen bestimmter Feiertage) für ein jüdisches Selbstverständnis eine Rolle spielen.
Antisemit*innen allerdings, so gilt es zu betonen, scheren sich wenig um jüdische Selbstdefinitionen. Für sie ist nicht wichtig, ob sich jemand selbst als jüdisch definiert und auf welche Art. Vielmehr haben wir es hier mit Abbildern davon zu tun, wie sich andere Menschen Jüd*innen vorstellen und wen oder was andere für jüdisch halten.
Als Überleitung zum folgenden Film fragen die Teamenden nun nach ersten Assoziationen der TN zum Thema Antisemitismus, woraufhin die Nennung von Nationalsozialismus und Holocaust wahrscheinlich ist. Dass die Geschichte der Judenfeindschaft noch sehr viel weiter zurückreicht, ist Gegenstand der anschließenden Übung mit einem Film.
Hinweis: Sind die TN bereits zuvor mit dem Begriff des Antisemitismus vertraut gemacht worden (z. B. in der Methode „Bilder im Kopf“), lässt sich diese Einführung auch entsprechend anpassen, verkürzen oder als ergänzende Vertiefung der Begriffsbestimmung aufbereiten.
Film (10 Min)
Der achtminütige Comic-Film „Woher kommt Judenfeindschaft?“ (siehe Material) befasst sich mit ausgewählten Aspekten der langen Geschichte antijüdischer Vorurteile. In vier Kapiteln begibt er sich auf eine Zeitreise rückwärts, die schrittweise vom 19. Jahrhundert über die Frühe Neuzeit und das Mittelalter bis zurück in das 4. Jahrhundert führt.
Bevor der Film über Beamer oder Smartboard abgespielt wird, erhalten die TN folgenden Beobachtungsauftrag (siehe Material):
Arbeitsauftrag 1
- Notiere, welche erfundenen Vorwürfe gegen Jüd*innen in den verschiedenen historischen Epochen verbreitet wurden.
Dazu nimmt jede*r TN einen Zettel zur Hand und schreibt darauf bereits den Satzanfang „Es wurde behauptet, dass …“. Während der Filmvorführung notieren die TN dort ihre Beobachtungen. Wenn alle Zettel vorbereitet sind, kann die Filmvorführung beginnen.
Schaubild (15 Min)
Nach der Vorführung werden wichtige Inhalte des Films mithilfe eines Schaubildes aus vorbereiteten Karten noch einmal strukturiert zusammengetragen, um den TN die Orientierung und die gemeinsame Auswertung zu erleichtern. Das Karten-Set umfasst Zeitangaben, Begriffe und Figuren mit Sprechblasen (siehe Material).
Zunächst hängen die Teamenden die Karten mit den Zeitangaben an Pinnwand oder Tafel, dieses Mal in der richtigen chronologischen Reihenfolge. Die übrigen acht Karten werden in die Mitte des Stuhlkreises gelegt.
Gemeinsam versuchen die TN nun, die ausliegenden Karten sukzessive den – an Pinnwand oder Tafel hängenden – Zeitabschnitten zuzuordnen. Die Teamenden unterstützen mittels Moderation und Erläuterungen. Korrekt zugeordnete Karten hängen sie in das Schaubild. Schrittweise entsteht somit ein orientierender Überblick über die im Film behandelten historischen Kontexte und die dort thematisierten Positionen der (christlichen) Mehrheitsgesellschaft gegenüber Jüd*innen.
Ist das Schaubild vervollständigt, werden die im Film genannten Vorwürfe gegen Jüd*innen, die die TN im Rahmen ihres Beobachtungsauftrags notiert haben, mündlich zusammengetragen, den jeweiligen Zeitabschnitten zugeordnet und nochmals kontextualisiert.
Zusammenführend sind Fülle, Willkürlichkeit und Absurdität der antijüdischen Anschuldigungen explizit herauszustellen. Dabei sollte zugleich deutlich gemacht werden, dass diese Behauptungen mit dem tatsächlichen Tun und Lassen von jüdischen Menschen nicht das Geringste zu tun haben.
Warum dennoch viele Menschen Bereitschaft zeigten (und zeigen), solch abstrusen Behauptungen und Vorwürfen Glauben zu schenken, wird in der anschließenden Arbeitsphase thematisiert. Das Schaubild kann an Pinnwand oder Tafel hängen bleiben.
Hinweis: Achten Sie beim Zusammentragen der Ergebnisse aus dem Beobachtungsauftrag zu Vorwürfen gegen Jüd*innen darauf, dass antisemitische Behauptungen nicht durch unreflektierte Formulierungen der TN (oder der Teamenden selbst) als Tatsachen erscheinen. Der projektive Charakter antisemitischer Zuschreibungen sollte auch auf sprachlicher Ebene stets klar zu erkennen sein.
Übung (40 Min)
Die TN werden in vier Gruppen eingeteilt. Für jede Gruppe wird ein eigenes Arbeitsblatt in ausreichender Anzahl an Exemplaren ausgegeben (siehe Material). Die Arbeitsblätter behandeln je eine der vier im Film thematisierten historischen Epochen. Auf ihnen finden sich ein kurzer Hintergrundtext, der zentrale Informationen aus dem Film nochmals knapp zusammenfasst, sowie eine Aussage, die auf mögliche Motivationslagen für antijüdische Positionen verweist.
In einer ersten Arbeitsphase (10 Min) lesen alle Gruppen zunächst ihre Texte aufmerksam durch und bearbeiten die auf dem Arbeitsblatt formulierte Aufgabe: Gemeinsam sollen sie anhand ihres jeweiligen historischen Beispiels darüber nachdenken, welche Funktionen antisemitische Positionierungen für die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft erfüllen können. Ihre Ideen notieren sie mit Filzmarkern auf einer oder mehreren Moderationskarten.
Haben alle Arbeitsgruppen ihre Ideensammlung beendet, folgt eine weiterer Bearbeitungsschritt (10 Min). Dazu geben die Teamenden an jede Gruppe zehn vorbereitete Funktionskarten und einen Arbeitsauftrag aus (siehe Material):
- „sich die Welt erklären (scheinbar)“
- „Gefühl eigener Machtlosigkeit überwinden“
- „eigene Vorrechte sichern“
- „die eigene Gruppe aufwerten“
- „Wut auf Mächtige an Schutzlosen auslassen“
- „Zusammengehörigkeitsgefühl stärken“
- „einfache Antworten auf komplizierte Fragen“
- „sich wirtschaftliche Vorteile verschaffen“
- „Machtposition der eigenen Gruppe stärken“
- „sich selbst als etwas Besseres fühlen“
Aufgabe der TN ist es nun, zu vergleichen und zu diskutieren, ob eine (oder mehrere) der auf den Karten vorgegebenen Funktionen oder Motivationen mit den zuvor selbst gesammelten Ideen korrespondiert (oder korrespondieren).
Arbeitsauftrag 2
- Vergleicht eure Ergebnisse mit den Karten. Findet ihr eure Überlegungen wieder? Welche weiteren Karten passen zu eurem Beispiel, und warum?
Nach Ablauf der Bearbeitungszeit kommen die TN wieder im gemeinsamen Stuhlkreis zusammen. Neben oder unter das Schaubild an der Tafel hängen die Teamenden einen weiteren Satz der Funktionskarten (siehe Material). Die Arbeitsgruppen stellen nun nacheinander ihre Ergebnisse vor. Während der Präsentation werden die auf dem jeweiligen Arbeitsblatt abgebildete Aussage und Figur für alle gut sichtbar mit Beamer oder Smartboard an die (Lein) Wand projiziert (siehe Material).
Zu Beginn jeder Präsentation fassen die Teamenden den entsprechenden historischen Kontext nochmals in aller Kürze zusammen oder lassen den Text vom Arbeitsblatt vorlesen. Danach stellt die Gruppe den anderen vor, was sie im ersten Arbeitsschritt notiert und welche der Funktionskarten sie ausgewählt hat. Die Auswahl ist von den TN zu begründen. Nach jeder Präsentation können die übrigen TN weitere Ideen ergänzen und diskutieren.
Zusammenführung (5 Min)
In einer abschließenden Zusammenführung lassen die Teamenden relevante Inhalte und Arbeitsergebnisse der Übung Revue passieren. Dabei stellen sie heraus, dass Vorurteile und Anfeindungen gegenüber Jüd*innen eine sehr lange Geschichte haben. Obwohl sich antijüdische Haltungen im Laufe der Zeit und im jeweiligen historischen Kontext veränderten, haben sich bestimmte Sichtweisen und Bilder tief in das Bewusstsein der nichtjüdischen Umwelt eingegraben. Viele stereotype Vorstellungen und Klischees über ‚die Juden‘ haben sich bis heute gehalten.
Allerdings hat Antisemitismus nichts mit dem tatsächlichen Tun und Lassen von jüdischen Menschen zu tun. Wer der Feindseligkeit gegenüber Jüd*innen auf den Grund gehen will, sollte deshalb die Funktionen der Judenfeindschaft für die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft in den Blick nehmen. Dies können die Teamenden an den in der Übung herausgearbeiteten Beispielen illustrieren. Sie sollten hierbei deutlich machen, dass viele der zuvor von den TN analysierten Funktionen auch auf gegenwärtige Formen des Antisemitismus übertragbar sind.
Hinweis: Achten Sie bei der Einteilung der Arbeitsgruppen darauf, dass diese nicht allzu groß werden, um Austausch und Diskussion innerhalb dieser Gruppen zu erleichtern. Ist die Gesamtzahl der TN besonders hoch, so kann die Anzahl der Arbeitsgruppen erhöht werden, indem man Themen einfach doppelt besetzt. Bei der abschließenden Präsentation der Ergebnisse können sich die Gruppen mit doppelt vergebenem Thema gegenseitig ergänzen.
Quelle
KIgA e.V. (Hg.): Widerspruchstoleranz 3. Ein Methodenhandbuch zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit. Berlin 2019. PDF
Bildnachweis: Andrew Neel / unsplash.com