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Hass statt Erinnerung – eine Analyse von Online-Kommentaren zum Holocaust Gedenktag

Ein Gastbeitrag von Pia Haupeltshofer, Alexa Krugel, Marcus Scheiber und Victor Tschiskale (Projekt "Decoding Antisemitism", TU Berlin)

Einleitung

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee mehr als 7.000 Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau – ein entscheidender Moment im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Insgesamt wurden dort mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordet, darunter etwa eine Million Jüdinnen*Juden.[1] Zudem wurden Pol*innen, Sinti*zze, Rom*nja und sowjetische Kriegsgefangene nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.[2] Im Jahr 2005 erklärten die Vereinten Nationen den 27. Januar zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust (Holocaust Remembrance Day, HRD). Auch wenn sich die Befreiung von Auschwitz im Jahr 2024 zum 79. Mal jährt, ist der Antisemitismus seit dem Sieg über den Nationalsozialismus nicht verschwunden: Immer wieder erlebt Antisemitismus einen erheblichen Aufschwung, wie auch aktuell im Kontext der Hamas-Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 und der anschließenden Militäroffensive Israels in Gaza zu beobachten ist. In ihrer Untersuchung englischer, französischer und deutscher Onlinekommentare nach dem 7. Oktober zeigten Becker et al.wurde.[3] Aufgrund dieser traurigen Aktualität bietet sich die Analyse von Instagram-Posts zum Holocaust-Gedenktag an, um sowohl die Häufigkeit als auch die Qualität von Antisemitismus im Kontext des Erinnerns an die NS-Verbrechen zu untersuchen als auch um Gegenstrategien aufzuzeigen. Unsere Auswertung politisch moderater Online-Profile zeigt, dass insgesamt 8,9% der untersuchten Kommentare als antisemitisch einzustufen sind. In beinahe jedem zweiten antisemitischen Kommentar (49,3%) wird der Holocaust durch Gleichsetzungen mit anderen Szenarien verharmlost. Ungefähr ein Viertel (24,7%) der antisemitischen Kommentare vermittelt den Vorwurf, Israel würde einen genozid[4] in Gaza durchführen.[5]

Datengrundlage

Die Grundlage der nachfolgenden Analyse bildet ein thematisches Korpus, das aus den Kommentarbereichen der Instagram-Profile von deutschen Mainstream-Medien (Welt, Arte, Bild, Tagesspiegel, SZ, FAZ, tagesschau, zdfinfo, funk), Aktivist*innen (Fridays for Future), Politikern (Robert Habeck, Friedrich Merz, Frank-Walter Steinmeier) sowie dem Zentralrat der Juden zusammengestellt wurde. Mit Hilfe von Suchanfragen rund um den HRD wurden 16 Instagram-Threads identifiziert, von denen wir jeweils die ersten 100 Kommentare analysierten. Zeitlich ist die Untersuchung auf den 27. und 28.01.2024 begrenzt, um sowohl die direkten Reaktionen auf diesen Tag als auch die Berichterstattung über den Verlauf des HRD in unserer Analyse zu berücksichtigen. Um die gesellschaftliche Breite abzubilden und dennoch eine Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten, bildeten wir eine Vielzahl an Stimmen (von medialer Berichterstattung bis hin zu aktivistischen Akteur*innen) ab. Obschon alle Threads entweder zur Erinnerung an die Opfer aufrufen oder eine grundlegende Mahnung im Sinne eines „Nie wieder“ aussprechen, lag die Dichte antisemitischer Kommentare in den einzelnen Threads bei bis zu 21%. Es ist bemerkenswert, dass sich der größte Anteil antisemitischer Kommentare in den Threads der Mainstream-Medien ausmachen ließ.

Analyse antisemitischer Narrative um den HRD

Der HRD als Tag der Erinnerung an die Shoah nehmen Menschen immer wieder zum Anlass, ihre antisemitischen Einstellungen (explizit oder implizit) zu kommunizieren. Infolgedessen stellten wir trotz – oder gerade wegen – dieses Datums sowohl eine Kontinuität antisemitischer Äußerungen im Vergleich zu anderen Ereignissen im deutschsprachigen Raum – wie der documentafifteen-Ausstellung in Kassel oder den KZ-Prozessen 2022 – als auch eine Aktualität in Hinblick auf die Verwendung dämonisierender Projektionen auf Israel fest. So ließen sich vor allem zwei Konzeptfelder identifizieren, auf welche die User*innen regelmäßig zurückgriffen: Zum einen wurde der Holocaust über Vergleiche und Gleichsetzungen mit gegenwärtigen oder historischen Szenarien seiner Singularität beraubt. Zum anderen wurde der HRD oftmals als Anlass genommen, Israel als absolutes Übel zu inszenieren, indem der israelischen Regierung ein genozid an der palästinensischen Bevölkerung unterstellt wird.

Indem die Differenzen der jeweiligen (historischen oder gegenwärtigen) Ereignisse ignoriert und diese gleichgesetzt werden, zielt das erste Konzeptfeld darauf ab, die Gräueltaten des Holocaust als symptomatisch in der Menschheitsgeschichte zu begreifen und die Shoa damit in eine Reihe von Unrechtsszenarien einzufügen. So relativieren User*innen den Holocaust entweder unter Bezugnahme auf politische Krisen Leider passiert es grade wieder und Deutschland ist mitten drin sowie innerhalb eines selbst geschaffenen Opfernarrativs: Stimmt, es passiert wieder und das zim zweiten Msl. Erst waren es die Ungeimpften, gegen die der Staat gezielt und erfolgreich gesetzt hat und jetzt sind es die AFD und ihre Wähler.[6] Ebenso geschieht dies über Gleichsetzungen mit den aktuellen Vorgängen im Gaza-Konflikt: Ihr heult alle über die furchtbare Vergangenheit und macht vor der furchtbaren Gegenwart die Augen zu! Schaut auf die Menschen in Gaza oder hört auf, die historischen Moralapostel zu spielen! Diese Doppelmoral ist einfach nur mehr zum *Erbrechen-Emoji*.[7] Die Bezugnahme auf den Gaza-Konflikt ist dabei als eine globale Strategie aufzufassen, insofern diese in allen landes- und milieuspezifischen Diskursen auftritt und zumeist im zweiten Konzeptfeld – der Zuschreibung Israel führe einen Genozid durch – kulminiert: Und dabei einem Genozid in Gaza zuschauen? Das “nie wieder” passiert jetzt gerade, in Gaza, über 30.000 Menschen hat Israel ermordet, über 11.000 davon sind Kinder. Wer auf der richtigen Seite der Geschichte stehen will, mal wieder im Gegensatz zu der deutschen Regierung, muss auf die Straße gehen und deren Stimme gegen einen Genozid im Gaza erheben.[8] Um einer automatisierten Moderation zu entgehen, greifen User*innen dabei oftmals auf typographische Abwandlungen wie Vern!chtungskrieg, Völkerm0rd oder gazagen0zid zurück.[9] Indem sich der Vorwurf des genozids zudem häufig über offene Anspielungen vollzieht: “Nie wieder” geschieht übrigens “gerade wieder” - und “schon wieder” mit deutscher Unterstützung...[10], nivellieren solche Kommentare nicht nur die Singularität des Holocaust, sondern postulieren im Sinne einer opfer-täter-umkehr eine Fortführung der Verbrechen durch Israel.

Zugleich konnten wir eine Reihe von Kommentaren identifizieren, die sich nicht offenkundig als antisemitisch fassen lassen, sondern durch wiederkehrende Argumentationsmuster wie Derailing[11]- und Externalisierungsstrategien gekennzeichnet sind. Diese Strategien können durchaus Teil antisemitischer Aussagen sein. So ließen sich beispielsweise Kommentare finden, die Antisemitismus zwar problematisieren, diesen dabei aber nur auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen projizieren, während sie andere Gruppen –bewusst oder unbewusst – von Antisemitismus freisprechen. Eine solche Externalisierung ist dann antisemitisch, wenn sie Formen der schuldabwehr oder eine leugnung von Antisemitismus beinhaltet. Wird Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen verkannt und nur einzelnen gesellschaftlichen Gruppen zugeschrieben, ist dies hingegen nicht notwendigerweise antisemitisch, kann jedoch zu einer impliziten relativierung führen. Eine genaue Prüfung von Kontext und Inhalt sind von Fall zu Fall notwendig. Deshalb ist es wichtig, diese Grauzone zu problematisieren, gibt sie doch Aufschluss über das instrumentelle Verhältnis von bestimmten User*innen zum Antisemitismus und kann zugleich in Rassismus umschlagen, wenn sie als vermeintlich unveränderliche Eigenschaft einer (konstruierten) Gruppe angesehen wird. Beispielhaft dafür war in unserem Korpus die Kommentarspalte unter dem Post von Friedrich Merz anlässlich des Holocaust-Gedenktags. Antisemitismus wurde von User*innen zwar problematisiert, dabei aber nur auf Muslim*innen bzw. Geflüchtete projiziert. Andere Kommentare gingen noch weiter und äußerten biologistisch-rassistische Zuschreibungen, wie folgend: Nur deshalb muss man sich noch weiter Antisemiten ins Land holen die den Judenhass schon mit der Muttermilch bekommen haben.[12] Diese Externalisierung erfolgt dabei nicht über eine direkte Bezugnahme, sondern über ein Netz von Anspielungen, welches sich als ein Narrativ von “muslimischen Geflüchteten” darstellt. Diesen wird hier ein vermeintlich natürlicher, ihnen innewohnender Antisemitismus attestiert. Zusätzlich zum Rassismus dieser Aussagen stellt sich in Debatten um “importierten Antisemitismus” meist eine Externalisierungsstrategie dar, die das Problem hin zu einer Fremdgruppe verlagert, somit die eigene Auseinandersetzung und Verantwortung abwehrt und den in der deutschen Gesellschaft traditionell verankerten Antisemitismus ausklammert bzw. leugnet: Mit keinem einzigen Wort den grassierenden muslimischen Antisemitismus erwähnen, aber die „rechtsradikalen Kräfte“. Ein Wort: Lost.[13] Auch wenn unbestreitbar ist, dass es Antisemitismus unterschiedlicher Ausprägung in muslimischen und migrantischen Communities gibt, dieser thematisiert und problematisiert werden muss, offenbart sich in der vermeintlich antisemitismuskritischen Haltung der User*innen gleichwohl ein instrumentelles Verhältnis: Diese vermeintliche Kritik wird zum bloßen Werkzeug des eigenen Rassismus und verengt eine kritische Debatte in Bezug auf den Antisemitismus.

Gegenstrategien

Die Analyse zum HRD 24 verdeutlicht, dass trotz zivilgesellschaftlicher und politischer Anstrengungen, antisemitische Inhalte aus den sozialen Medien zu verbannen, immer noch eine extreme Menge an Hasskommentaren, Videos und Bildern verbleibt. Dies demonstriert nicht nur die Notwendigkeit von Forschungsprojekten wie Decoding Antisemitism, die an einer langfristigen Lösung durch die Verbesserung der qualitativen und maschinellen Erkennung von Antisemitismus online arbeiten, sondern wirft auch die Frage auf, wie antisemitischer oder anderer Hassrede online zu begegnen ist. In dem Bericht “Best Practices to Combat Antisemitism on Social Media” sieht das Institute for the Study of Contemporary Antisemtism (ISCA) das Melden von problematischen Inhalten als sinnvolle Maßnahme, um die Social Media-Unternehmen zunächst darauf aufmerksam zu machen und zum Handeln zu zwingen.[14] Auch wenn das Melden oftmals nur eine kurzfristige Lösung darstellt, da entsprechend gemeldete Accounts häufig bereits kurze Zeit später unter einem neuen Alias wieder auftauchen oder auf weniger moderierte Websites abwandern, ist es trotzdem die einzige Möglichkeit für User*innen, antisemitische Inhalte von Plattformen entfernen zu lassen. Zudem vergeht einige Zeit, bis ein gemeldeter Hasskommentar von einer Plattform geprüft und endgültig gelöscht wird, in welcher der Inhalt für User*innen sichtbar bleibt.[15] Eine weitere Handlungsmöglichkeit besteht in der direkten Gegenrede. Grundsätzlich gilt natürlich, dass direkter Widerspruch auf Hasskommentare immer ein Zeichen gegen entsprechende Inhalte setzt und den User*innen aufzeigt, dass keine Zustimmung gegeben wird.[16]
Jedoch gehen mit der Strategie der sogenannten “Counter-Narratives” und “Counter-Speech” einige Schwierigkeiten einher: Da direktes Antworten auf antisemitische Kommentare zu einer höheren Sichtbarkeit führen kann, insofern Posts mit vielen Kommentaren von Algorithmen stärker berücksichtigt werden, kann das heißen, dass Kommentare, die zunächst kaum Aufmerksamkeit erregt hätten, durch das “Engagement“ mehr User*innen angezeigt werden. So erreicht der initiale Hasskommentar ein größeres Publikum und wird somit für zunächst unbeteiligte Dritte sichtbar.[17] Eine traditionelle Aufklärung über die verschiedenen Hassideologien im Offline-Raum bleibt daher unverzichtbar, damit User*innen selbst problematische oder menschenverachtende Inhalte als solche erkennen und damit umzugehen lernen können. Gegenstrategien wie das Markieren und Melden antisemitischer Inhalte oder das Etablieren von Gegennarrativen, die bisweilen aufgrund der schieren Menge an Hass als hoffnungsloses Unterfangen erscheinen, erweisen sich dennoch als notwendiges und sinnvolles Instrument im Kampf gegen Antisemitismus online.[18]

Da sich das Erkennen von Antisemitismus aufgrund seiner vielen Dimensionen, der impliziten Kommunikationsweisen und der Verquickung mit Verschwörungsideologien als eine besondere Herausforderung darstellt, hat das Decoding-Antisemitism-Projekt ein Lexikon erstellt. In diesem werden die prominentesten antisemitischen Phänomene aus der Analysearbeit des Projekts mit Beispielen vorgestellt und dekonstruiert, sodass diese als Orientierungshilfe in der konkreten Auseinandersetzung mit antisemitischen Inhalten dienen können.[19]

 

[1]Siehe Bundeszentrale für politische Bildung 2020.

[2]Diese Auflistung ist nicht vollständig. Zur weiterführenden Literatur zu Verfolgten des Nationalsozialismus empfiehlt sich die Broschüre der Bundeszentrale für politische Bildung (2016).

[3]Siehe Becker et al., Celebrating Terror: antisemitism online after the Hamas attacks on Israel: Preliminary Results I (2023) und Becker et al., Decoding Antisemitism: An AI-driven Study on Hate Speech and Imagery Online. Discourse Report 6 (2024).

[4]Da Konzepte Phänomene auf der mentalen Ebene darstellen, die über Sprache reproduziert werden können, setzen wir diese gemäß kognitionslinguistischen Konventionen in Kapitälchen.

[5]Bei der Identifizierung verzerrter Aussagen, wie der Behauptung, Israel würde einen Völkermord begehen, folgen wir dem Grundsatz, dass Behauptungen, die ähnliche Szenarien in und um Israel für die Zukunft vorhersagen, nicht als antisemitisch einzustufen sind. Siehe Becker et al., Decoding Antisemitism: A Guide to Identifying Antisemitism Online (2024).

[6]Siehe SZ-Magazin, Nur zur Erinnerung (2024).

[7]Siehe Welt, In normalen Zeiten würde Leon Weintraub seine Geschichte so erzählen, wie er sie immer erzählt hat (2024).

[8]Siehe funk, Heute ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus (2024).

[9]Siehe funk, Heute ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus (2024).

[10]Siehe funk, Heute ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus (2024).

[11]Derailing-Strategien bedeuten die intendierte Ablenkung vom Thema einer Diskussion mit dem Ziel einer thematischen Umlenkung oder Verschiebung.

[12]Siehe merzcdu, Davidsterne auf Hauswänden (2024).

[13]Siehe merzcdu, Davidsterne auf Hauswänden (2024).

[14]Siehe Institute for the Study of Contemporary Antisemitism, Best practices to combat antisemitism on social media (2017).

[15]Siehe Institute for the Study of Contemporary Antisemitism, Best practices to combat antisemitism on social media (2017), S. 14.

[16]Siehe Institute for the Study of Contemporary Antisemitism, Best practices to combat antisemitism on social media (2017), S. 17.

[17]Siehe Hübscher und von Mering, A snapshot of antisemitism on social media in 2021 (2022), S. 10.

[18]Siehe Barak-Cheney und Saltiel, To Report or Not to Report: Antisemitism on Social Media and the Role of Civil Society (2022), S. 223.

[19]Für eine breite Zugänglichkeit wird der Band im Open Access Format erscheinen. Siehe Becker et al., A Guide to Identifying Antisemitism Online (2024).

 

Bildnachweis: Gilles Lambert / unsplash.com

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