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Alte Argumentationsmuster und neue Codes

Antisemitismus nach 1945

Auch nach dem Holocaust besteht Antisemitismus weiter fort. Seine Spielarten reichen von „klassischer“ Judenfeindschaft über sekundären Schuldabwehr-Antisemitismus bis hin zu antisemitischen Verschwörungsideologien oder islamisiertem Antisemitismus. Vor dem Hintergrund ideologisierter und verfälschender Sichtweisen auf Globalisierungshärten oder den Nahostkonflikt haben althergebrachte antijüdische Vorurteile und Argumentationsmuster immer wieder Konjunktur.

Nach dem Holocaust war der Antisemitismus keineswegs aus den Gesellschaften Europas verschwunden. Als „Antisemitismus nach Auschwitz“ enthält er nach wie vor Facetten der „klassischen“ Judenfeindschaft. Als sekundärer Antisemitismus reagiert er auf den Völkermord an den Jüdinnen und Juden, mit dessen Leugnung, mit Erinnerungs- und Schuldabwehr oder einer argumentativen Täter-Opfer-Umkehr. Nicht nur in Deutschland wurde er im Laufe der Jahrzehnte zu einem „Antisemitismus ohne Juden“, der kaum noch einen Bezug zur jüdischen Bevölkerung im Land selbst besitzt und antisemitische Verschwörungsideologien bedient.

Nachkriegszeit

In der deutschen Bevölkerung blieb Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin virulent. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren reagierte die Mehrheit der Deutschen mit einer geistigen Flucht vor der Verantwortung: Die begangenen Verbrechen wurden kleingeredet, die Schuld für sie auf die toten Nazi-Größen abgewälzt und gegen das eigene im Krieg erlebte Leid aufgerechnet. Der Schock der Niederlage, das Bekanntwerden des Ausmaßes der NS-Verbrechen und die Anwesenheit der alliierten Besatzungsmächte führten zunächst zu Vorsicht und weithin zur Vermeidung offener antijüdischer Meinungen. Im Jahrzehnt nach 1945 trafen antisemitische Haltungen gepaart mit Neid um Versorgung insbesondere die in Deutschland verbliebenen jüdischen Flüchtlinge und Überlebende und waren Teil der Debatten um finanzielle Entschädigungsleistungen und „Wiedergutmachung“.

Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik

Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 trat Antisemitismus öffentlich hauptsächlich in Gestalt antijüdischer Beschimpfungen und Drohungen seitens der Bevölkerung und einzelner Politiker hervor. Mehr als dreißig Prozent der westdeutschen Bevölkerung teilten Anfang der 1950er-Jahre judenfeindliche Einstellungen. Der Antisemitismus reichte weit in das bürgerliche politische Lager hinein und blieb für die gegründeten Parteien und Organisationen der extremen Rechten bestimmender Teil ihrer Weltanschauung. Charakteristisch für die frühen Nachkriegsjahre war, dass öffentliche Fragen, die den Nationalsozialismus oder Jüdinnen und Juden betrafen, wiederholt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führten. Nach der Reintegration von NS-Belasteten in das politische und öffentliche Leben und der ‚Entschädigung‘ der Opfer folgte Mitte der Fünfzigerjahre eine vergangenheitspolitische Phase des weitgehenden Stillschweigens über die NS-Vergangenheit. Der Bundesregierung ging es vielmehr um die erfolgreiche Anbindung an die USA und den Westen. Die sich seit 1957 häufenden antisemitischen Vorfälle wurden nur zum Jahreswechsel 1959/60 von einer bundesweiten Schmierwelle mit weit über 600 Fällen übertroffen, die jedoch auch zu einer öffentlichen Mobilisierung gegen Antisemitismus und ‚Ewiggestrige‘ führte.

1949 ging aus der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik (DDR) hervor, die sich als Konkurrenz zur Bundesrepublik und selbst als sozialistisch-antifaschistischer Staat nach Vorbild der Sowjetunion verstand. Antisemitismus galt in ihr offiziell als überwunden. Gleichwohl blieben auch in der DDR-Bevölkerung antisemitische Einstellungen existent.

Der Kalte Krieg bestimmte von nun an die nationale und internationale Politik, was zu einer Akzentverschiebung der politischen Fragen beider deutscher Staaten weg von der Bewältigung der jüngeren Vergangenheit führte.

Antizionismus und Antisemitismus

Mit der Gründung des Staates Israel 1948 entstand eine neue Variante der Judenfeindschaft, der israelbezogene Antisemitismus. In der Sowjetunion und in anderen Ländern des sozialistischen „Ostblocks“ überlagerte sich diese Form des Antizionismus mit tradierten judenfeindlichen Motiven und Stereotypen. Unter der Herrschaft des sowjetischen Diktators Josef Stalin (1879 - 1953) verbanden sie sich mit Verschwörungsdenken, dem Feindbild „Kosmopolitismus“ und der Denkwelt des Ost-West-Konfliktes. Als sich die Hoffnung auf ein sozialistisches Israel nicht erfüllte und die sowjetischen Jüdinnen und Juden öffentlich Sympathie für den neuen jüdischen Staat bekundeten, begann in der Sowjetunion die Ausschaltung jüdischer Politiker/innen und ihrer Sympathisanten/innen aus dem politischen Leben. Dieser Linie folgten Anfang der 1950er Jahre auch andere sozialistische Staaten. Diese stalinistischen Antizionismus-Kampagnen und inszenierten Schauprozesse trafen Jüdinnen und Juden nicht direkt als ‚Juden‘. Durch die erwähnte jüdische Herkunft der Beschuldigten entstand jedoch der Eindruck einer prinzipiellen Unzuverlässigkeit der jüdischen Minderheit gegenüber dem sozialistischen System, dass das Misstrauen erhöhte. Mit dem Tod Stalins 1953 und der danach einsetzenden Entstalinisierung verfolgte die DDR-Führung ihre bereits begonnene antizionistische Kampagne nicht weiter. In der Zeit danach blieben die jüdischen Gemeinden unter der Beobachtung durch den Staatssicherheitdienst..

Der Sechstagekrieg von 1967 und seine Folgen veränderten die Haltung zu Israel in West wie Ost in Teilen der Bevölkerung deutlich ins Negative. Die DDR-Führung schwenkte außenpolitisch auf den antizionistischen Kurs der Mehrheit der übrigen Ostblockstaaten ein. Die Haltungen im westdeutschen Staat waren ambivalent. Während die Bundesregierung offiziell eine israelfreundliche Agenda vertrat, solidarisierten sich große Teile der neuen sozialen Protestbewegungen mit den antikolonialen Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt und mit dem palästinensischen Nationalismus. Den jüdischen Staat prangerten sie mit zum Teil harschen NS-Vergleichen als Besatzungs- und Militärmacht an. Einige Akteure der radikalen Linken reagierten mit einer teils militanten Wendung hin zum Antizionismus, der immer wieder auch antisemitische Bilder und Motive transportierte. Als Teil der studentischen Protestbewegung in Westdeutschland machten sich die Angehörigen der Nachkriegsgeneration allerdings auch für ein Ende des gesellschaftlichen Schweigens und für eine Aufklärung der NS-Vergangenheit stark.

1970er- und 1980er-Jahre

Antisemitismus und Vergangenheitsbewältigung standen in den frühen 1970er-Jahren in der Bundesrepublik im Schatten des Terrorismus der Rote Armee Fraktion (RAF). Dies änderte sich erst gegen Ende des Jahrzehnts mit dem zunehmenden Aufkommen militanter bis terroristischer Neonazi-Organisationen, dem Auseinandersetzungen über die Ursachen für Rechtsextremismus folgten. Neben rechtsextremen Gewalttaten traten seit den späten 1970er-Jahren auch rechte Parteien und eine sich intellektuell gebende „Neue Rechte“ in Erscheinung, die Antisemitismus beförderten und für eine Relativierung der NS-Vergangenheit eintraten. Die Ausstrahlung der US-amerikanischen TV-Serie „Holocaust – Geschichte der Familie Weiß“ 1979 gab in der bundesdeutschen Öffentlichkeit wichtige Impulse für eine breite Auseinandersetzung mit dem Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden. Die in diesen Jahren in der Bundesrepublik mit teils rassistischen Vorurteilen gespickte Auseinandersetzung über die „Migrations- und Ausländerpolitik“ führte zu einem Anstieg rechtsextrem motivierter Gewalt und auch zu einer Häufung antisemitischer Straftaten. Zusätzlich reagierten deutsche Medien auf den Libanonkrieg 1982 mit israelfeindlichen Stellungnahmen und eine kritische Haltung gegenüber Israel gewann zunehmend Anhänger/innen. Die großen öffentlichen geschichtspolitischen Debatten und Skandale der 1980er-Jahre machten deutlich, wie sehr die Fragen nach einem angemessenen Umgang mit der NS-Geschichte und der Erinnerung an den Holocaust dieses Jahrzehnt bestimmten. Meinungsumfragen kamen in jener Zeit zu dem Ergebnis, dass etwa 15 Prozent der westdeutschen Bevölkerung antisemitische Einstellungen teilten. Spätestens seit Ende der 1980er Jahre gilt offener Antisemitismus in der Öffentlichkeit als tabuisiert. Mit zeitlichem Abstand zum Nationalsozialismus wuchs überdies die späte Bereitschaft, die deutsche Schuld für dessen Verbrechen anzuerkennen. Die Leugnung des Holocaust wurde 1985 unter gesetzliche Strafe (§ 130 StGB) gestellt.

Antisemitismus seit dem Ende des Kalten Krieges

In den Veränderungen des Antisemitismus nach 1990 können wir erneut Verschiebungen in Hinblick auf Anlässe und die zugrundliegenden Motiven judenfeindlichen Denkens und Handelns beobachten.

Vor dem Hintergrund nationalistischer Stimmungen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und zahlreicher, schwerer Anschläge und Übergriffe gegen Migranten/innen und als ‚Ausländer‘ bezeichnete Deutsche bildete sich besonders im Osten der Republik zu Beginn der 1990er-Jahre eine rechtsextreme Szene heraus, zu deren Weltbild klar der radikale Antisemitismus gehört. Judenfeindliche Äußerungen kamen und kommen auch von ‚normalen‘ Bürgern/innen und Politikern/innen aus der „Mitte der Gesellschaft“, jedoch häufig versteckt oder sprachlich getarnt. Die anhaltende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ließ immer wieder antisemitische Positionen an das Tageslicht treten, die zu öffentlichen Skandalen führten.

Zu den nationalen Ursachen kamen seit 1991 internationale Konfliktfelder hinzu, die durch die globalen politischen Veränderungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entstanden. Im Zuge der Eskalationen des Nahostkonflikts und der Kriege im arabischen Raum erlebten viele europäische Länder antisemitische Übergriffe, eine Flut beleidigender Briefe an jüdische Institutionen sowie äußerst emotionale Antisemitismus-Debatten. Anlässlich der Verbreitung des islamisierten Antisemitismus in Europa sprachen Beobachter/innen von einem „neuen Antisemitismus“. Die oft eindimensionale Rezeption des Nahostkonflikts führte in den weiteren Phasen zu israelkritischen bis antisemitischen Stellungnahmen in der Öffentlichkeit. Gegenwärtig dominiert ein verzerrtes, negatives Bild des jüdischen Staates, das nicht selten judenfeindliche Motive transportiert. In nahezu allen politischen Lagern dient der Begriff Zionismus mittlerweile als sprachlicher Code für ‚die Juden‘ und das Judentum. Verbunden mit der Herausforderung des islamistischen Terrorismus und Problemen der Globalisierung sowie im Zuge von Finanzkrisen und Spannungen in Migrationsgesellschaften begegnen uns nach wie vor althergebrachte antisemitische Vorurteile und Argumentationsmuster. Durch neue Möglichkeiten globaler Kommunikation finden sie einen hohen Verbreitungsgrad und internationalen Anklang.

 

Zum Weiterlesen

Werner Bergmann: Geschichte des Antisemitismus. 4. Aufl. München 2010.

Werner Bergmann/Ulrich Wyrwa: Antisemitismus in Zentraleuropa. Darmstadt 2011.

Gideon Botsch: Von der Judenfeindschaft zum Antisemitismus. Ein historischer Überblick. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 28-30 (2014), S. 10-17. Online/PDF

Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. 3., überarb. u. erw. Aufl. Bielefeld 2015.

Olaf Glöckner/Julius H. Schoeps (Hg.): Deutschland, die Juden und der Staat Israel. Eine politische Bestandsaufnahme. Hildesheim 2016.

Thomas Haury: Antisemitismus in der DDR. In: Dossier Antisemitismus. Hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) 2006. Online

Mario Keßler: Antizionismus. In: Wolfang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3. Berlin 2010, S. 21-24.

Lars Rensman: Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2004.

Monika Schwarz-Friesel/Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Berlin 2013.

 

 

Bildnachweis: codswollop / photocase.de

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