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Die „rote Pille“ schlucken

Antisemitismus ist eine Denkweise (Kognition)

Die antisemitische Ideologie entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern auf dem Nährboden gesellschaftlicher Widersprüche. Zu den Spezifika des Antisemitismus gehört sein pseudo-rebellischer Charakter: In der modernen, durch abstrakte (und damit schwer fassbare) Herrschaft geprägten Gesellschaft werden Juden und Jüdinnen als konkrete Schuldige fantasiert, als mächtige Unterdrücker/innen. Antisemitische Gewalt wird so als vermeintliche Notwehr rationalisiert. VON SEBASTIAN WINTER

Die Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden ist keineswegs zu allen Zeiten und an allen Orten in gleicher Form und gleichem Ausmaß verbreitet. Sie ist nicht nur Ausdruck eines allgemein menschlichen Verhaltens, sondern wird gelenkt durch die antisemitische Ideologie. Situationen erzeugen bei den Menschen, die in ihnen stecken, nie unmittelbar eine Reaktion, sondern diese wird vermittelt über die Deutung der Situation.

Die Desintegrationsthese: Antisemitismus als Krisenverarbeitung 

Die Desintegrationsthese des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung betrachtet „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeiten“, darunter auch den Antisemitismus, als Verarbeitungsform eines Erlebens von Ohnmacht, mangelnder gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennungsdefiziten. Diese Perspektive ist auf Reaktionsweisen in bestimmten krisenhaften historischen Phasen und/oder an den krisenhaften Rändern der Gesellschaft ausgerichtet.

Die Manipulationsthese: Antisemitismus als Ablenkungsmanöver

Andere Analysen untersuchen Ideologie wesentlich allgemeiner als Ausdruck der kapitalistischen Verfasstheit der Gesellschaft. Im traditionellen Arbeiterbewegungsmarxismus wird eine intentionale Ideologieproduktion durch die herrschende Klasse vermutet, die gezielt die wahren Ursachen der Misere verschleiert und der Bevölkerung stattdessen Feindobjekte zur Ablenkung anbietet.

An dieser Sichtweise fallen mehrere blinde Flecken auf. Zum einen ein Denken in Haupt- und Nebenwidersprüchen: Als allein wesentlich wird die Ausbeutung in der Lohnarbeit gesetzt – die Kategorien der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit seien dagegen allesamt keine ökonomischen Kategorien, auf denen die Gesellschaft basiert, sondern ideologische, die bloß der Verschleierung dienen. Zum anderen taucht der Antisemitismus in diesem Theoriestrang meist nur als Unterform von Rassismus auf und wird nicht als eigenständiges Ressentiment begriffen, dessen Träger/innen sich als Rebell/innen gegen „die da oben“ fantasieren. Er kann daher nur als rassistischer „Antikapitalismus der dummen Kerls“ verstanden werden, die ihre berechtigte Empörung auf das falsche Objekt richten. Antisemitismus ist demnach, ähnlich wie bei der Desintegrationsthese, ein Attributionsfehler.

Ideologiekritik: Antisemitismus als „notwendig falsches Bewusstsein“

„Ideologie“ lässt sich aber auch anders begreifen: nicht als hinterhältige Manipulation der ansonsten per se emanzipatorisch gesinnten Bevölkerung, sondern als „notwendig falsches Bewusstsein“. Notwendig im Sinne von: Die Welt funktioniert alltagspraktisch und auf den ersten Blick wirklich so, wie die Ideologie sie beschreibt. In den „Elementen des Antisemitismus“, einem Kapitel des Buches Dialektik der Aufklärung, formulieren Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in diesem Sinne eine Ideologiekritik des Antisemitismus: Die nicht mehr persönliche (wie im Mittelalter, wo ein König das Sagen hatte), sondern abstrakte Herrschaft in den bürgerlichen, der Gleichberechtigung aller ihrer Mitglieder verpflichteten Gesellschaften (wo die unsichtbare Hand des Marktes regiert), verspricht Gleichheit, Freiheit und individuelles Glück. Zugleich aber zerschellt dieses Versprechen an der Härte der gesellschaftlichen Realität, in welcher die abstrakte Herrschaft sich konkret auswirkt (und man beispielsweise arm bleibt). Diese Gewalt scheint nun aber von außerhalb zu kommen und nicht im Wesen der durch ihre Verfassungen geschützten Gesellschaften selbst zu liegen.

Eine Vielzahl von Verschwörungstheorien setzt hier an und benennt angebliche äußere Schuldige („Volksverräterin Merkel“, „globalistische Eliten“, „US-amerikanische Lobbys“, „Banker“, „die Wirtschaft“), anstatt die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, in welcher die (rechtliche) Gleichheit Bedingung der (sozialen) Ungleichheit ist. Derartige Verschwörungsideologien sind sehr weit verbreitet. Die Shell-Jugendstudie 2019 hat festgestellt, dass 53 % der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen glaubt: „Die Regierung verschweigt der Bevölkerung die Wahrheit“. Die „Rote Pille“ aus dem Film „Matrix“ zu schlucken, die mediale Gehirnwäsche hinter sich zu lassen und die Wahrheit zu erkennen, ermöglicht ein scheinbares Rebellieren gegen die sozialen Zwänge. Antisemitismus ist die Essenz der Verschwörungsideologien: Letztlich werden „die Juden“ als die betrügerischen Strippenzieher hinter all dem ausgemacht. Und zugleich scheinen sie die einzigen zu sein, die gierig und prassend das vorenthaltene Glück genießen.

Moishe Postone hat an diese Überlegungen angeknüpft und in seinem grundlegenden Aufsatz „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ (1979) sowohl die liberale Ideologie kritisiert, die die Judenfeindschaft nur als Vorurteil, als gesellschaftsunabhängiges kognitives Muster erkennen kann, als auch die traditionell arbeiterbewegungsmarxistische Ideologie, die den pseudo-rebellischen Impuls des Antisemitismus („gegen die da oben“) nicht angemessen erfassen kann. Postone beschreibt den Antisemitismus als ideologische Feindschaft gegen das abstrakte Prinzip der Herrschaft, das die Jüdinnen und Juden verkörpern müssen.

Die Spezifik des Antisemitismus

Anders als in dem Konzept „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, in welchem Rassismus und Antisemitismus gleichartig nebeneinanderstehen, enthüllt die Ideologiekritik deren Unterschied: Der Rassismus ist eine Feindschaft gegen „die da unten“ und – in seinen zivilisationsapologetischen „Erziehungs“-Varianten – ein Kampf für den universalistischen Maßstab, an den sich „die Zurückgebliebenen“ anzupassen hätten. Der Hass auf Jüdinnen und Juden ist dagegen ein vermeintliches Aufbegehren gegen „die da oben“, gegen die Klassenherrschaft („Die reichen Kapitalisten und Banker sind alles Juden.“), gegen das Patriarchat („Der jüdische Monotheismus hat die matriarchalen Kulturen zerstört und ist frauenverachtend.“) und gegen den rassistischen Postkolonialismus („Die Zionisten unterdrücken das palästinensische Volk.“) sowie insgesamt gegen die kapitalistisch-aufgeklärte universalistische Modernisierung und ihre Abstraktheits- und Entfremdungsphänomene. Rassismus und Antisemitismus zusammen ergeben Phantasmen wie die vom „Großen Austausch“: „Die Juden fördern die Einwanderung von Muslimen nach Europa, um dadurch die nationalen Identitäten zu zersetzen und die haltlosen Menschen dann besser ausbeuten zu können.“

Antisemiten/innen sind nicht immer dumm. Die häufig durchaus komplexe und detailreiche Argumentation von Verschwörungsideologien verweist darauf, dass der Antisemitismus nicht nur als eine einfache Antwort auf eine komplexe Welt zu verstehen ist. Neben seiner kognitiven und seiner konativen, zum Gewalthandeln drängenden Seite hat er auch eine affektive Dimension.

 

Dr. Sebastian Winter ist Sozialpsychologe und Historiker. Er ist Mitbegründer der Gesellschaft für psychoanayltische Sozialpsychologie und vertritt aktuell eine Professur für Heilpädagogik an der Hochschule Hannover.

 

Zum Weiterlesen

Wilhelm Heitmeyer: Rechtsextremismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Wilhelm Heitmeyer im Gespräch mit Stefan Koldehoff. Deutschlandfunk, 08.11.2015. Online

Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus. In: Ders.: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen. Freiburg 2005 [1979], S. 165-194. PDF

Monika Schwarz-Friesel: Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl. Leipzig 2019.

 

Bildnachweis: Shapelined / unsplash.com

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