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Gruppendruck und Pogromstimmung

Antisemitismus ist eine Gewaltpraxis (Konation)

Die aggressive Dynamik von „Wir gegen Die“-Gruppen ist für die Erklärung antisemitischer Gewalt von hoher Relevanz. Eine Reihe sozialpsychologischer Experimente beleuchtet Mechanismen und Auswirkungen von Gruppenkonstruktionen, sowie die Rolle von Anpassungsdruck und Autoritätshörigkeit. Zwar wird Antisemitismus dabei nicht direkt in den Blick genommen, dennoch liefern diese Untersuchungen wichtige Einsichten in grundlegende Funktionsmechanismen dieses gesellschaftlichen Phänomens. VON SEBASTIAN WINTER

Antisemitismus ist Gewalt. Sein Wesen ist die (psychische und physische) Verletzung der Stigmatisierten und sein Ziel deren (sozialer) Tod. Von der Schulhofparole „Du Jude!“, die den so Angerufenen diffamieren soll, über die lauthalse Bekundung israelfeindlicher Positionen, die jüdische Stimmen übertönen soll, bis zum Pogrom, in dem die Gewalt sich verabsolutiert – es geht im Antisemitismus konativ, d. h. zum Handeln drängend, um die Ausübung von Macht, um Demütigung und Unterwerfung.

Gruppenprozesse und antisemitische Praxis

Antisemitische Gewalt geschieht aus Gruppen heraus, die sich um Anführer/innen scharen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugen. Die Täter/innen handeln nicht alleine, sondern mit dem Rückenwind ihrer antisemitischen „Wir“-Gruppen. Diese sind bei den Gewaltakten meist real anwesend und das Handeln dann ein gemeinsames (beispielsweise die Klassengemeinschaft, die „den Juden“ mobbt). Aber auch einzelne Täter/innen fühlen sich als Teil einer Gruppe (beispielsweise der pöbelnde Antizionist, der die „schweigende Mehrheit“ und von ihm bewunderte Politiker/innen hinter sich weiß).

Wie entstehen solche „Wir gegen Die“-Gruppen mit ihrer gewaltförmigen Dynamik? In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in der Sozialpsychologie etliche Experimente entworfen und durchgeführt, um herauszufinden, unter welchen Umständen 1) Menschen sich als Gruppe gegen Andere zusammenschließen, 2) dabei ihre individuelle Kritikfähigkeit aufgeben und 3) den Führern/innen der Gruppe und ihren Wünschen oder Befehlen blindlings folgen. Dies geschah vor dem Hintergrund der Suche nach psychologischen Erklärungen für den Erfolg und die Stabilität des nationalsozialistischen Regimes und seiner Verbrechen in Deutschland. Eine grundlegende These war, dass es sich bei den Tätern/innen und Mitläufern/innen um „ganz normale Menschen“ gehandelt habe, weshalb die Experimente auch mit Probanden/innen aus anderen Ländern und Generationen durchgeführt werden könnten.

Versuche zu Gruppenkonstruktion: „Wir“ gegen „die Anderen“

Henri Tajfel hat Anfang der 1970er Jahren die sogenannten „Minimalgruppen“-Experimente durchgeführt, bei denen die Probanden/innen rein zufällig einer von zwei Kategorien (A oder B) zugeordnet wurden und anschließend Leistungen von Angehörigen der eigenen und der anderen Gruppe bewerten oder ihnen kleine Geldbeträge zuweisen sollten. Obwohl die Probanden/innen weder die anderen Mitglieder der Eigengruppe noch jene der Fremdgruppe jemals kennenlernten, bevorzugten sie deutlich die „eigenen Leute“ und benachteiligten „die Anderen“. Tajfel hat aus diesen Ergebnissen die „Theorie der sozialen Identität“ entwickelt: Eine „Gruppenidentität“, verbunden mit der Diskriminierung von nichtzugehörigen „Anderen“, ist demnach ganz unabhängig von realen gemeinsamen Eigenschaften der Gruppenmitglieder, sondern entspringt der phantasmatischen Vorstellung von der Existenz einer Eigen- und Fremdgruppe.

Zwei andere Experimente haben gezeigt, wie leicht diese Gruppenidentitäten sich mit Gewalttätigkeit gegen die schwächeren „Anderen“ verbinden. Im Third Wave-Experiment von 1967, Vorlage des mittlerweile auch verfilmten Jugendromans „Die Welle“, wurde eine Schulklasse im Geschichtsunterricht auf Rituale von Disziplin und Gemeinschaft eingeschworen, um die Gefühlswelt des Nationalsozialismus nachvollziehbar zu machen. Das Experiment gewann innerhalb weniger Tage eine Eigendynamik, in welcher neue Mitglieder der „Bewegung“ rekrutiert, kritische Schüler/innen denunziert und eingeschüchtert wurden. Das Stanford Prison-Experiment unter Leitung von Philip Zimbardo verlief ganz ähnlich: Ein Rollenspiel, in welchem einige Studenten Wächter und andere Häftlinge eines fiktiven Gefängnisses im entsprechend ausstaffierten Keller der Universität spielten, musste nach wenigen Tagen wegen sadistischen Verhaltensweisen sowie Misshandlungen der „Gefangenen“ abgebrochen werden.

Das Fazit dieser Experimente: Wenn eine Situation geschaffen wird, die eine Gruppenidentität und Gewalt als Handlungsmöglichkeit gegen schwächere Außenstehende anbietet, dann verhalten sich die Menschen in dieser Situation auch identitär und gewaltsam.

Versuche zu Anpassung in der Gruppe: Der Wunsch nach Konformität

In der dargestellten Situation kommt es zu einem Verlust des individuellen kritischen Vermögens: Das, was als „Gruppendruck“ bezeichnet wird, die Hingabe an die Haltung und Meinung der Gruppe, zeigt auf bestürzende Weise das Konformitätsexperiment von Solomon Asch: Bezeichneten alle Mitglieder einer Probandengruppe (tatsächlich Schauspieler/innen) eine auf einer Karte aufgemalte Linie als genauso lang wie eine zweite Vergleichslinie, obwohl sie tatsächlich deutlich kürzer oder länger war, zweifelte die überwiegende Zahl der Probanden/innen an ihrer eigenen Wahrnehmung und stimmte zumindest in einigen Durchgängen dem offensichtlichen Fehlurteil zu. Was in der Gruppe Common Sense ist, wird für richtig gehalten. Asch bezog dieses Ergebnis auf den Glauben an die absurd realitätswidrigen Aussagen antisemitischer Propaganda.

Versuche zu Verhalten gegenüber Autoritäten: Gehorsam trotz innerer Konflikte

Das Gehorsamsexperiment von Stanley Milgram ist wahrscheinlich das bekannteste der gruppenpsychologischen Experimente. Es untersucht das Verhalten gegenüber dem Anführer der Gruppe: Die Probanden/innen werden von dem Versuchsleiter - im weißen Kittel und mit männlich-medizinischer Autorität ausstaffiert - aufgefordert, einem/einer anderen angeblichen Versuchsteilnehmer/in (tatsächlich ein/e Schauspieler/in in einem Nebenraum, hörbar aber nicht sichtbar) mittels eines angeblichen Schaltpults Stromstöße in zunehmender Stärke zu versetzen, wenn diese/r auf Fragen falsch antwortet. Das Ergebnis: Trotz deutlichen Unbehagens und heftigen Zweifeln angesichts der Schmerzensschreie und Bitten des/der Schauspieler/in folgte der überwiegende Teil (allerdings bei weitem nicht alle) der Probanden/innen den Anweisungen des Versuchsleiters und erhöhte die Stromstärke bis zu einer Dosis von 450 V. Der/die zuvor verzweifelt schreiende Schauspieler/in gab zu diesem Zeitpunkt bereits keine Rückmeldung mehr. Wiederholungen des Experiments, zuletzt 2010 unter dem Titel „La Zone Xtrême“, angepasst an heutige Autoritätsstrukturen als Show im französischen Fernsehen, zeigten ähnliche Ergebnisse.

Die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Kontextualisierung

Alle diese Experimente haben nicht spezifisch die Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden im Blick, sondern versuchen, allgemeinere Grundzüge der Bildung von „Wir gegen Die“-Gruppen und ihrer Gewaltdynamik offenzulegen. Das Objekt der Gewalt erscheint dabei prinzipiell ebenso auswechselbar wie die Mitglieder der „Täter/innen“-Gruppe. Diese Perspektive enthält die Möglichkeit einer problematischen „Anthropologisierung“, also die Gefahr, die beobachteten Gruppenprozesse für allgemein menschlich zu halten: „So sind Menschen nun mal...“. Auf diese Weise würde die historische und kulturelle Spezifik der antisemitischen Gewalt übersehen – nicht alle Gesellschaften sind antisemitisch – und letztlich von individueller Schuld entlastet: Wenn alle so sind, ist keine/r wirklich schuldig aufgrund seiner/ihrer Taten.

Das Paradigma des Autoritären Charakters interpretiert dagegen die Experimente dahingehend, dass die autoritäre Reaktionsbereitschaft eine kulturtypische Erziehung zum Gehorsam voraussetze. Die inneren Konflikte und Nachfragen der Probanden/innen, die Milgram beobachtet hat, und die Verächtlichmachungen der Anderen bei Tajfels Versuchen verweisen zudem selbst auf das Bestreben, das eigene Handeln als „sinnvoll“ einzustufen. Die Gewalt benötigt eine Ideologie, die sie rechtfertigt und lenkt.

 

Dr. Sebastian Winter ist Sozialpsychologe und Historiker. Er ist Mitbegründer der Gesellschaft für psychoanayltische Sozialpsychologie und vertritt aktuell eine Professur für Heilpädagogik an der Hochschule Hannover.

Zum Weiterlesen

Stanley Milgram: Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek bei Hamburg 2007 [1974].

Morton Rhue: Die Welle. Ravensburg 1987 [1981].

Henri Tajfel: Gruppenkonflikt und Vorurteil. Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen. Bern u.a. 1982.

 

 

Bildnachweis: Mella / photocase.de

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