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Dunkelziffern, Erfassungslücken, Konjunkturen

Antisemitisch motivierte Straftaten

Die Zahl der registrierten antisemitisch motivierten Straftaten in Deutschland steigt. Und das, obwohl viele Betroffene selbst schwere antisemitische Übergriffe nicht melden und das polizeiliche Erfassungssystem weiterhin Mängel aufweist. VON ANNE GOLDENBOGEN & CATERINA ZWILLING

Im Jahr 2018 zählte die Polizei in Deutschland insgesamt 1799 antisemitische Straftaten. Damit stieg die Zahl im Vergleich zum Vorjahr um fast 20 Prozent. Nach Steigerungsraten von 2,5 Prozent im Jahr 2017 und 7,5 Prozent im Jahr 2016 setzt sich der Trend eines Anstiegs antisemitischer Kriminalität also im dritten Jahr in Folge fort. Besonders augenfällig ist der Anstieg im Bereich der Gewalttaten: Hier wurden für das Jahr 2018 69 Delikte registriert. Im Vergleich zu den 37 antisemitisch motivierten Gewaltdelikten, die 2017 erfasst wurden (2016: 34), ist somit eine Steigerung von etwa 85 Prozent zu verzeichnen. 1603 Delikte wurden den polizeilichen Ermittlungen zufolge von Tätern/innen aus dem rechten bis extrem rechten Spektrum begangen. 102 Straftaten werden der polizeilichen Kategorie „ausländische Ideologie“ zugeschrieben, weitere 52 gelten als „religiöse Ideologie“, gehen also zum Beispiel auf Islamisten/innen ausländischer und deutscher Herkunft zurück. 14 Delikte waren nach Erkenntnissen der Polizei links motiviert.1 Damit werden etwa 90 Prozent der antisemitisch motivierten Straftaten dem Phänomenbereich „rechts“ zugeordnet. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer um einiges höher liegt. Zum einen, weil viele Betroffene vor einer Anzeige zurückschrecken: Laut einer aktuellen Umfrage unter Jüdinnen und Juden in Deutschland meldeten nur ein Fünftel der Befragten antisemitische Vorfälle bei der Polizei oder einer anderen Organisation.2 Und zum anderen, weil das polizeiliche Erfassungssystem auch über das sogenannte Underreporting hinaus Lücken aufweist.

Das Problem mit der Erfassung

Antisemitisch motivierte Straftaten werden in Deutschland unter der Kategorie „Politisch motivierte Kriminalität“ (PMK) erfasst und in der Regel als extremistisch klassifiziert. Als extremistisch gelten jene Straftaten, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstoßen und als Hasskriminalität bezeichnet werden. Dazu gehören neben antisemitischen auch rassistisch, fremdenfeindlich und anderweitig motivierte Delikte. Doch auch wenn sich hinsichtlich der polizeilichen Erfassungspraxis in den letzten Jahren einiges getan hat, ist die weiterhin handlungsleitende Orientierung am Extremismuskonzept problematisch. So führt die grundsätzliche Zuordnung von antisemitischen Straftaten zum Phänomenbereich „rechts“ – sofern keine weiteren Spezifika erkennbar sind – dazu, dass der Eindruck entsteht, antisemitische (und auch fremdenfeindliche) Delikte seien weitgehend ein Problem der Rechten bzw. extremen Rechten in Deutschland. Noch unterstützt von der Tatsache, dass nicht strafrechtlich relevante Fälle ohnehin aus der Polizeistatistik herausfallen, droht der Antisemitismus der Mitte der Gesellschaft hierbei vollends aus dem Blick zu geraten.

Erschwert wird die Erfassung antisemitisch motivierter Straftaten darüber hinaus durch das spezifische polizeiliche Zählsystem: Wird beispielsweise ein Fall von antisemitischer Beleidigung mit folgender Körperverletzung zur Anzeige gebracht, geht nur der schwerere Straftatbestand, in diesem Falle also die Körperverletzung, in die Statistik ein.

Auch die Klärung des Motivs spielt eine entscheidende Rolle. Hier kommt es auf die Sensibilität und Fachkompetenz der zuständigen Beamten/innen an. Denn sie bestimmen, ob eine Tat als antisemitisch eingestuft wird oder nicht. Gerade in Fällen, in denen keine Täter/innen ermittelt werden können, müssen sich die Beamten/innen die Motivlagen selbstständig erschließen. Dafür braucht es eine gute Kenntnis der entsprechenden Symbole und Codes. Nicht-deutschsprachige Äußerungen oder Schriften machen die Sache häufig noch komplizierter.

Eine weitere Problemlage ergibt sich hinsichtlich des israelbezogenen Antisemitismus: Das polizeiliche Meldesystem hält hier die Kategorien „Hasskriminalität – Unterthema: antisemitisch“ und die Kategorie „Bürgerkriege/Krisenherde“ mit den Unterthemen „Israel“ und „Palästina“ bereit. Welche Einordnung vorgenommen wird, liegt im Ermessen der Ermittler/innen.

Vor dem Hintergrund der genannten Schwierigkeiten ist die Etablierung zivilgesellschaftlicher Monitoring-Stellen von großer Bedeutung. In Berlin gibt es dafür beispielweise das von Reach Out koordinierte Register zur Erfassung rechtsextremer und diskriminierender Vorfälle in Berlin, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) sowie die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR). In die Erhebungen dieser Institutionen fließen zum einen auch Vorfälle ein, die polizeilich keinen Straftatbestand aufweisen und deswegen nicht protokolliert wurden. Zum anderen wenden sich auch Personen hierhin, die sich mit dem gleichen Anliegen nicht an die Polizei wenden würden. Wie wichtig die Arbeit dieser Monitoring-Stellen ist, zeigt sich im direkten Zahlenvergleich: In Berlin zählte RIAS 2018 insgesamt 1083 antisemitische Vorfälle3, die polizeiliche Statistik dagegen erfasste nur 3244 Straftaten mit antisemitischer Motivation (Stand: März 2019).

Allgemeine Erkenntnisse

Trotz statistischer Ungenauigkeiten lassen sich auf Basis der Zahlen des Bundeskriminalamtes einige allgemeine Erkenntnisse über antisemitische Straftaten festhalten: So werden die meisten antisemitischen Straf- und Gewaltdelikte von Männern aus dem rechtsextremen Spektrum begangen, größtenteils im Alter von über dreißig Jahren. Insgesamt dominieren Propagandadelikte und Volksverhetzungen. Und während unruhigen bzw. kriegerischen Zeiten in Israel und den palästinensischen Gebieten steigt die Anzahl antisemitisch motivierter Straftaten in Deutschland rapide an.5 Auch die qualitative Forschung verzeichnet hier ein eindeutiges Bild: Auffallend gehäuft erreichen jüdische Institutionen wie den Zentralrat der Juden in Deutschland Zuschriften mit antisemitischem Gehalt genau dann, wenn sich der öffentlich-mediale Blick auf den Nahostkonflikt richtet. Dies wurde etwa beim Gaza-Konflikt zum Jahreswechsel 2008/2009 deutlich: Innerhalb kürzester Zeit erhielt der Zentralrat über 800 Nachrichten, die sich alle auf den Nahostkonflikt bezogen, nicht wenige davon mit antisemitischem Inhalt.6

 

Anne Goldenbogen ist Mitbegründerin und war bis 2019 Redakteurin von „Anders Denken – Die Onlineplattform für Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit“

Caterina Zwilling war bis 2019 Redakteurin von „Anders Denken – Die Onlineplattform für Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit“

Anmerkungen

1 Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Hg.), Übersicht „Hasskriminalität“:  Entwicklung der Fallzahlen 2001–2018, 14. Mai 2019, o. S. PDF

2 European Union Agency for Fundamental Rights: Experiences and perceptions of antisemitism. Second survey on discrimination and hate crime against Jews in the EU (2018), S. 56. PDF

3 Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS): Antisemitische Vorfälle 2018. Hg. vom Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK). Berlin 2019, S. 4. PDF

4 Antwort der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung auf eine Schriftliche Anfrage zu antisemitisch motivierten Straftaten in Berlin 2018. Abgeordnetenhaus Berlin, Drucksache 18/17929 vom 05. März 2019. PDF

5 Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus: Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen. Hg. vom Bundesministerium des Innern. Berlin 2017, S. 39f. PDF

6 Vgl. Monika Schwarz-Friesel/Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Berlin/Boston 2013, S. 14ff.

 

Zum Weiterlesen

Heiko Beyer: Zur Verbreitung des Antisemitismus in Deutschland: Empirische Forschungsbefunde und methodische Probleme. In: Dossier Antisemitismus, Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) 2017. Online

Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS)
www.report-antisemitism.de

 

 

Bildnachweis: Jon Tyson / unsplash.com

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