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Hinter dem Glanz der Fassade. Herausforderungen antisemitismuskritischer Bildungsarbeit.

Bei diesem Text handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Artikels, der 2020 im Zivilgesellschaftlichen Lagebild Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung erschienen ist. Angesichts dessen, dass der Antisemitismus in jüngster Zeit noch bedrohlicher, gewaltförmiger und öffentlich sichtbarer geworden ist, stellt sich die Frage, ob die antisemitismuskritische Bildung ihren Ansprüchen gerecht werden kann. Vor welchen Herausforderungen steht sie und wie kann sie diesen wirksam begegnen?

Ansprüche und Herausforderungen

Aus antisemitischen Einstellungen wird zunehmend antisemitische Gewalt. Dies zeigt die aktuelle Ausgabe des Lagebild Antisemitismus ebenso wie die aktuellen Zahlen antisemitischer Angriffe, die laut Bundeskriminalamt 2019 um 13% zugenommen haben.[1]  Wie konkret die Bedrohung für die in Deutschland lebenden Jüd:innen ist, zeigte nicht zuletzt der rechtsterroristische Anschlag auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur 2019. Vor dem Hintergrund dieser beunruhigenden Entwicklungen und dem Aufschwung verschwörungsideologischer Bewegungen im Kontext der Coronapandemie wachsen die Erwartungen an die antisemitismuskritische Bildungsarbeit. Deren Aufgabe ist es, die Folgen, die der Antisemitismus für die Betroffenen hat, sichtbar und antisemitische Vorurteile und Stereotype bearbeitbar zu machen. Dazu gehört auch Wissen über Antisemitismus, seine Geschichte, Funktionen und Erscheinungsformen zu vermitteln. Idealerweise setzt die Bildungsarbeit präventiv an, um die Ausbildung antisemitischer Vorurteile und Feindbilder zu verhindern. Und sie liefert das Werkzeug, im Falle antisemitischer Vorfälle erfolgreich und im Sinne der Betroffenen zu intervenieren. Dazu zählt vor allem ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Jüd:innen, aber auch andere von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffene Kinder und Jugendliche sicher und ernst genommen fühlen.

Trotz der tagespolitisch und medial erhöhten Präsenz von Antisemitismus begegnen antisemitismuskritische Pädagog:innen zunächst der grundsätzlichen Schwierigkeit, ein selbstreflexives Problembewusstsein über antisemitische Ressentiments bei ihren Teilnehmenden zu entwickeln. Denn Antisemit:innen sind scheinbar immer die anderen. Deutschland hat eine lange Tradition Antisemitismus als Problem wegzuschieben: In die „bewältigte“ Vergangenheit, ins Ausland oder an die konstruierten „extremistischen“ Ränder der Gesellschaft. In jüngster Zeit stehen besonders geflüchtete und muslimische Menschen unter dem Verdacht, antisemitisch zu sein.

Diese Dynamik, Antisemitismus als etwas Externes zu betrachten, entlastet die mehrheitsdeutsche Dominanzgesellschaft. Sie ist eine Ausdrucksweise des sekundären Antisemitismus nach 1945. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus hat widersprüchliche Auswirkungen auf die Erinnerungskultur. In der deutschen Erfolgsgeschichte als „Erinnerungsweltmeister“ wirkt Antisemitismus als Gegenbild des demokratischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik. Da antisemitische Ressentiments nicht existieren dürfen, scheinen sie „überwunden“. Wie Meron Mendel und Astrid Messerschmidt jedoch treffend beschreiben, beruht dieser offizielle Ausschluss des Antisemitismus aus der Öffentlichkeit auf einem „fragilen Konsens“, einer „Fassade, die vieles durchlässt“.[2]

Handlungsempfehlungen

Erfolgreiche historisch-politische und antisemitismuskritische Bildungsarbeit bedarf vor allem einer Reflexion der Pädagog:innen über ihre eigene Involviertheit. Ebenso wie die Besucher:innen antisemitismuskritischer Workshops sind auch Pädagog:innen nicht losgelöst von den angesprochenen gesellschaftlichen Verhältnissen – die Zielgruppe sind also nicht nur Teilnehmende, sondern auch Pädagog:innen selbst.

Um den Einstieg in eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus zu vereinfachen, lohnt sich besonders ein lebensweltlicher Ansatz. Diese Herangehensweise ermöglicht Teilnehmenden einen thematischen Zugang anhand ihrer eigenen Biografie, Ortsbezügen sowie der Reflexion über ihre eigene Identität und ihre Beziehungen. Mithilfe persönlicher Erfahrungen können Lernprozesse angestoßen werden, die die Identität als Ausgangspunkt nutzen, um eine inhaltliche Auseinandersetzung über Haltungen und Einstellungen auszulösen. Das Anne Frank Zentrum arbeitet bereits seit vielen Jahren erfolgreich mit dem biografischen Ansatz. Durch die Auseinandersetzung mit konkreten Biografien bekommen Jugendliche einen Zugang zu zunächst schwer greifbaren Themen und entwickeln Bezugspunkte zu ihrem eigenen Leben.

Um den verbreiteten gesellschaftlichen Stereotypen über vermeintliche migrantische und muslimische Träger:innen von Antisemitismus entgegenzuwirken, erfordert es einer zuschreibungssensiblen Praxis seitens der Pädagog:innen. Sie sollten darauf achten, nicht zu pauschalisieren und sensibel für die Diskriminierungserfahrungen der Teilnehmenden zu sein.

Darüber hinaus gilt es jedoch, auch Gleichzeitigkeiten – beispielsweise von Rassismuserfahrungen und antisemitischen Einstellungen – in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit zu erkennen und auszuhalten, gemäß der Formel: Antisemitismus aus rassismuskritischer Perspektive bearbeiten und Rassismus aus antisemitismuskritischer Perspektive.[3]

Eine Vorgehensweise, dieses Zusammendenken zu befördern, findet sich in der Auseinandersetzung mit den Funktionen des Antisemitismus. Ein wesentliches Motiv antisemitischer Ressentiments liegt im Reduzieren, Vereinfachen oder Personifizieren von Komplexität. Statt Antisemitismus nur als ideologisch „falsches Denken“ bloßzustellen, ermöglicht eine Betrachtung der Funktionen des Antisemitismus eine Reflexion über Motivationen und Bedingungen antisemitischer Argumentationsweisen.

Antisemitismuskritische Bildungsarbeit erfordert den Willen und die Ausdauer der Pädagog:innen, konfliktbereit in die Auseinandersetzung zu treten. Anstatt bestimmte Themen zu tabuisieren und Konflikte zu vermeiden, können diese als Ausgangspunkt für Diskussionen nutzbar gemacht werden. Hierbei gilt es, konstruktiv und nachvollziehbar eine klare Haltung zu beziehen, ohne persönlich oder bloßstellend vorzugehen.

Um dem Verständnis von Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Problem gerecht zu werden, braucht es eine Vervielfältigung der Zielgruppen antisemitismuskritischer Bildungsarbeit. Statt lediglich Jugendliche zu adressieren, sollte es wesentliches Ziel sein, auch Kinder und Erwachsene verschiedener Milieus zu erreichen. Hierbei bedarf es besonders langfristiger und kontinuierlicher Angebote, um eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Teilnehmenden und Pädagog:innen herzustellen, die die jeweiligen Bedürfnisse und Besonderheiten ernst nimmt.

Paradoxerweise wird innerhalb antisemitismuskritischer Bildungsarbeit in der Regel eine nicht-jüdische Teilnehmer:innenschaft vorausgesetzt – es wird über Jüd:innen und nicht mit Jüd:innen gesprochen. Stattdessen braucht es eine Pädagogik, die Jüd:innen als Subjekte in die Bildungsarbeit einbezieht und Othering problematisiert. Die oberste Priorität stellt schließlich der Schutz von Jüd:innen gegenüber antisemitischen Ressentiments dar ­– unabhängig davon, ob tatsächlich jüdische Teilnehmende anwesend sind oder nicht.

Ansprüche und Herausforderungen

Aus antisemitischen Einstellungen wird zunehmend antisemitische Gewalt. Dies zeigt die aktuelle Ausgabe des Lagebild Antisemitismus ebenso wie die aktuellen Zahlen antisemitischer Angriffe, die laut Bundeskriminalamt 2019 um 13% zugenommen haben.[1]  Wie konkret die Bedrohung für die in Deutschland lebenden Jüd:innen ist, zeigte nicht zuletzt der rechtsterroristische Anschlag auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur 2019. Vor dem Hintergrund dieser beunruhigenden Entwicklungen und dem Aufschwung verschwörungsideologischer Bewegungen im Kontext der Coronapandemie wachsen die Erwartungen an die antisemitismuskritische Bildungsarbeit. Deren Aufgabe ist es, die Folgen, die der Antisemitismus für die Betroffenen hat, sichtbar und antisemitische Vorurteile und Stereotype bearbeitbar zu machen. Dazu gehört auch Wissen über Antisemitismus, seine Geschichte, Funktionen und Erscheinungsformen zu vermitteln. Idealerweise setzt die Bildungsarbeit präventiv an, um die Ausbildung antisemitischer Vorurteile und Feindbilder zu verhindern. Und sie liefert das Werkzeug, im Falle antisemitischer Vorfälle erfolgreich und im Sinne der Betroffenen zu intervenieren. Dazu zählt vor allem ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Jüd:innen, aber auch andere von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffene Kinder und Jugendliche sicher und ernst genommen fühlen.

Trotz der tagespolitisch und medial erhöhten Präsenz von Antisemitismus begegnen antisemitismuskritische Pädagog:innen zunächst der grundsätzlichen Schwierigkeit, ein selbstreflexives Problembewusstsein über antisemitische Ressentiments bei ihren Teilnehmenden zu entwickeln. Denn Antisemit:innen sind scheinbar immer die anderen. Deutschland hat eine lange Tradition Antisemitismus als Problem wegzuschieben: In die „bewältigte“ Vergangenheit, ins Ausland oder an die konstruierten „extremistischen“ Ränder der Gesellschaft. In jüngster Zeit stehen besonders geflüchtete und muslimische Menschen unter dem Verdacht, antisemitisch zu sein.

Diese Dynamik, Antisemitismus als etwas Externes zu betrachten, entlastet die mehrheitsdeutsche Dominanzgesellschaft. Sie ist eine Ausdrucksweise des sekundären Antisemitismus nach 1945. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus hat widersprüchliche Auswirkungen auf die Erinnerungskultur. In der deutschen Erfolgsgeschichte als „Erinnerungsweltmeister“ wirkt Antisemitismus als Gegenbild des demokratischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik. Da antisemitische Ressentiments nicht existieren dürfen, scheinen sie „überwunden“. Wie Meron Mendel und Astrid Messerschmidt jedoch treffend beschreiben, beruht dieser offizielle Ausschluss des Antisemitismus aus der Öffentlichkeit auf einem „fragilen Konsens“, einer „Fassade, die vieles durchlässt“.[2]

Handlungsempfehlungen

Erfolgreiche historisch-politische und antisemitismuskritische Bildungsarbeit bedarf vor allem einer Reflexion der Pädagog:innen über ihre eigene Involviertheit. Ebenso wie die Besucher:innen antisemitismuskritischer Workshops sind auch Pädagog:innen nicht losgelöst von den angesprochenen gesellschaftlichen Verhältnissen – die Zielgruppe sind also nicht nur Teilnehmende, sondern auch Pädagog:innen selbst.

Um den Einstieg in eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus zu vereinfachen, lohnt sich besonders ein lebensweltlicher Ansatz. Diese Herangehensweise ermöglicht Teilnehmenden einen thematischen Zugang anhand ihrer eigenen Biografie, Ortsbezügen sowie der Reflexion über ihre eigene Identität und ihre Beziehungen. Mithilfe persönlicher Erfahrungen können Lernprozesse angestoßen werden, die die Identität als Ausgangspunkt nutzen, um eine inhaltliche Auseinandersetzung über Haltungen und Einstellungen auszulösen. Das Anne Frank Zentrum arbeitet bereits seit vielen Jahren erfolgreich mit dem biografischen Ansatz. Durch die Auseinandersetzung mit konkreten Biografien bekommen Jugendliche einen Zugang zu zunächst schwer greifbaren Themen und entwickeln Bezugspunkte zu ihrem eigenen Leben.

Um den verbreiteten gesellschaftlichen Stereotypen über vermeintliche migrantische und muslimische Träger:innen von Antisemitismus entgegenzuwirken, erfordert es einer zuschreibungssensiblen Praxis seitens der Pädagog:innen. Sie sollten darauf achten, nicht zu pauschalisieren und sensibel für die Diskriminierungserfahrungen der Teilnehmenden zu sein.

Darüber hinaus gilt es jedoch, auch Gleichzeitigkeiten – beispielsweise von Rassismuserfahrungen und antisemitischen Einstellungen – in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit zu erkennen und auszuhalten, gemäß der Formel: Antisemitismus aus rassismuskritischer Perspektive bearbeiten und Rassismus aus antisemitismuskritischer Perspektive.[3]

Eine Vorgehensweise, dieses Zusammendenken zu befördern, findet sich in der Auseinandersetzung mit den Funktionen des Antisemitismus. Ein wesentliches Motiv antisemitischer Ressentiments liegt im Reduzieren, Vereinfachen oder Personifizieren von Komplexität. Statt Antisemitismus nur als ideologisch „falsches Denken“ bloßzustellen, ermöglicht eine Betrachtung der Funktionen des Antisemitismus eine Reflexion über Motivationen und Bedingungen antisemitischer Argumentationsweisen.

Antisemitismuskritische Bildungsarbeit erfordert den Willen und die Ausdauer der Pädagog:innen, konfliktbereit in die Auseinandersetzung zu treten. Anstatt bestimmte Themen zu tabuisieren und Konflikte zu vermeiden, können diese als Ausgangspunkt für Diskussionen nutzbar gemacht werden. Hierbei gilt es, konstruktiv und nachvollziehbar eine klare Haltung zu beziehen, ohne persönlich oder bloßstellend vorzugehen.

Um dem Verständnis von Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Problem gerecht zu werden, braucht es eine Vervielfältigung der Zielgruppen antisemitismuskritischer Bildungsarbeit. Statt lediglich Jugendliche zu adressieren, sollte es wesentliches Ziel sein, auch Kinder und Erwachsene verschiedener Milieus zu erreichen. Hierbei bedarf es besonders langfristiger und kontinuierlicher Angebote, um eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Teilnehmenden und Pädagog:innen herzustellen, die die jeweiligen Bedürfnisse und Besonderheiten ernst nimmt.

Paradoxerweise wird innerhalb antisemitismuskritischer Bildungsarbeit in der Regel eine nicht-jüdische Teilnehmer:innenschaft vorausgesetzt – es wird über Jüd:innen und nicht mit Jüd:innen gesprochen. Stattdessen braucht es eine Pädagogik, die Jüd:innen als Subjekte in die Bildungsarbeit einbezieht und Othering problematisiert. Die oberste Priorität stellt schließlich der Schutz von Jüd:innen gegenüber antisemitischen Ressentiments dar ­– unabhängig davon, ob tatsächlich jüdische Teilnehmende anwesend sind oder nicht.

 

 

[1] Siehe: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/pmk-2019.pdf?__blob=publicationFile&v=8 [4.8.2020]

[2] Mendel/Messerschmidt (2017), S. 13.

[3] Vgl. Bernstein (2020), S. 304.

 

Literaturempfehlungen:

European Union Fundamental Rights Agency (Hrsg.) (2013): Diskriminierung und Hasskriminalität gegenüber Juden in den EU-Mitgliedstaaten: Erfahrungen und Wahrnehmungen im Zusammenhang mit Antisemitismus. Wien.

Bernstein, Julia (2020): Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Herangehensweisen. Weinheim.

Grimm, Marc/Müller, Stefan (Hrsg.) (Oktober 2020): Bildung gegen Antisemitismus. Spannungsfelder der Aufklärung. Frankfurt.

Mendel, Meron/Messerschmidt, Astrid (Hrsg.) (2017): Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt am Main.

Salzborn, Samuel/Kurth, Alexandra (2019): Antisemitismus in der Schule. Erkenntnisstand und Handlungsperspektiven. Wissenschaftliches Gutachten. Berlin/Gießen.

Bildnachweis: Kimberly Farmer / unsplash.com

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