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Studie zum Antisemitismus 2.0

Der ehrliche Antisemitismus: Judenhass reloaded im World Wide Web

Das Internet ist einer der wichtigsten Diskurs- und Informationsräume der Gegenwart. Die Studie „Judenhass im Internet“ zeigt auf, dass Artikulationen von Antisemitismen im Netz in den vergangenen Jahren nicht nur dramatisch zugenommen, sondern sich auch deutlich radikalisiert haben. VON MONIKA SCHWARZ-FRIESEL

    „der tag wird kommen
    da wir euch vernichten werden
    das ist keine Drohung
    sondern ein versprechen“
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Zwar wird regelmäßig im öffentlichen Diskurs auf Verrohung und Enthemmungsprozesse sowie die Verbreitung antisemitischer Texte, Bilder und Videos in den sozialen Medien hingewiesen, doch bislang gab es nur sehr wenige empirisch fundierte Ergebnisse zu diesen Prozessen. Die vorgelegte Studie zeigt erstmals aufgrund einer großen Datenmenge und über einen Zeitraum von zehn Jahren, wie und wo sich im Internet, insbesondere in den Sozialen Medien der Alltagsnutzer/innen, Antisemitismus ausbreitet und auf welchen Denk-, Gefühls- und Argumentationsmustern er basiert. Dabei zeigt sich, dass Antisemiten/innen im Netz 2.0 offen und unverblümt ihren Hass ausleben und dabei auf die Stereotype der klassischen Judenfeindschaft zurückgreifen.

Die Vermessung des Hasses: Zur Relevanz authentischer Daten und empirischer Antisemitismusforschung

Wie denken, fühlen und argumentieren Antisemiten/innen im digitalen Zeitalter? Bislang lagen zum Einstellungsantisemitismus entweder nur Umfragen vor, die aufgrund ihrer künstlichen Datenerhebung keine Authentizität besitzen, oder einzelne Fallbeobachtungen sowie Interviews mit wenigen Personen, die weder repräsentativ noch aussagekräftig genug waren. Die vielen Einzelbeobachtungen sowie Erfahrungsberichte geben interessante Hinweise, sind jedoch nicht intersubjektiv durch Daten gesättigt. Wenn man empirisch abgesichert Auskunft erhalten will, wie Judenhass im Internet kommuniziert und verbreitet wird und Einblick in antisemitische Einstellungen erhalten will, muss man authentische Daten analysieren, d.h. in natürlichen Kommunikationssituationen produzierte Antisemitismen. Über vier Jahre lang wurden anhand von Korpusanalysen unterschiedliche Textsorten wie online-Kommentare, Blogeinträge, Tweets, Facebook- und Youtube-Postings, Fanforen- und Ratgeber-Einträge usw.) mit ihren multimodalen Verlinkungen (auf Bilder, Audios, Videos) quantitativ und qualitativ untersucht, um ins „Herz des Hasses“ blicken zu können.

Die dunkle Seite des Abendlandes: Judenhass als kulturelle Geistes-Krankheit

Alle Analysen zeigen, dass uralte judenfeindliche Stereotype sich mit aktuellen Konzeptualisierungen verbinden. Die Kontinuität von Judenhass ist ungebrochen und erweist sich als wesentlich stärker als die zeitgemäßen Veränderungen. Die Basis von Judenhass ist unabhängig von politischen, sozialen, ideologischen und ökonomischen Faktoren ein kultureller Gefühlswert, der auf der Wahnvorstellung fußt, Juden und Jüdinnen seien das Übel in der Welt. Für die die gesamte Internet-Kommunikation ist zu konstatieren, dass sich zwar oberflächliche Formen und Prozesse im digitalen Zeitalter verändern, der kollektive Hass gegenüber Juden und Jüdinnen jedoch die semantische Grundlage ist. Antisemitismus, ein auf Phantasmen basierendes Weltdeutungs- und Glaubenssystem, ist trotz der Aufklärungsbemühungen nach dem Holocaust als negatives Kulturerbe in den abendländischen Denk- und Gefühlsstrukturen verankert und wird im Netz täglich und alltäglich re-aktiviert. Judenhass erweist sich als resistente kulturelle Geistes-Krankheit im weitesten Sinne: Es ist die Schattenseite der abendländischen Kulturgeschichte. Über Sprachgebrauchsmuster aus dem kommunikativen Gedächtnis werden judenfeindliche Inhalte reproduziert und bleiben damit im kollektiven Bewusstsein.

Das Internet 2.0 als Multiplikator und Katalysator von Judenfeindschaft: Zur Omnipräsenz von Antisemitismen

Das Web 2.0 ist heute der primäre Tradierungsort und Multiplikator für die Verbreitung von Antisemitismen: Durch die Spezifika der Internetkommunikation (aktive und wechselseitige Netzpartizipation, Schnelligkeit, freie Zugänglichkeit, Multimodalität, Anonymität, globale Verknüpfung) und die steigende Relevanz der Sozialen Medien als meinungsbildende Informationsquelle in der Gesellschaft hat die ungefilterte und fast grenzenlose Verbreitung judenfeindlichen Gedankengutes allein quantitativ ein Ausmaß erreicht, das in der Geschichte präzedenslos ist. Jeden Tag werden Tausende neue Antisemitismen gepostet und ergänzen die seit Jahren im Netz gespeicherten und einsehbaren judenfeindlichen Texte, Bilder und Videos. Es gibt kaum noch einen Diskursbereich im 2.0, in dem Nutzer/innen nicht Gefahr laufen, auf Judenhass zu stoßen, auch wenn sie nicht aktiv danach suchen. Mit oft nur einem Klick kommen z.B. User/innen bei Such- und Informationsfindungsprozessen auf Seiten mit judenfeindlichen Texten und Bildern. Das Sag- und Sichtbarkeitsfeld für Antisemitismen hat sich im Web 2.0 exorbitant vergrößert.

Israelisierung der antisemitischen Semantik: Israel im Fokus des Hasses

Die Verbreitung von judenfeindlichen Inhalten hat nicht nur zugenommen (in 10 Jahren haben sich z.B. antisemitische Kommentare vervierfacht), sondern sich auch zunehmend radikalisiert. Insbesondere der israelbezogene Antisemitismus – die vorherrschende Ausprägungsvariante von Judenhass im digitalen Zeitalter – artikuliert sich über einen stark ausgeprägten Vernichtungswillen. Israelhass ist untrennbar an alten Judenhass gekoppelt: Über 50% aller Antisemitismen in den Korpora weisen klassische Stereotype auf. Beim Hass auf Israel treffen sich alle Antisemiten/innen: Hier sind Linke, Rechte, Mittige etc. konsensual. Auch die Verschwörungsphantasien, die auf Israel projiziert werden, werden von der klassischen Feindschaft gespeist. Die „Israelisierung der antisemitischen Semantik“ zeigt sich zudem in Themenfeldern, die in keinerlei Relation zum Nahostkonflikt stehen (z.B. in der Beschneidungsdebatte). Der auf Israel mittels klassischer Stereotype projizierte Judenhass führt also die Tradition der radikalen Judenfeindschaft fort und legitimiert zugleich diese Form des Antisemitismus als „Meinungsfreiheit“ – was aufgrund des Fehlens von effektiven Gegenmaßnahmen in Justiz und Politik sowie Zivilgesellschaft noch verstärkt wird.

Habitualisierung versus Leugnung und Bagatellisierung: Affektlogik

Es sind nicht die Informationsportale der politischen und ideologischen Extremisten/innen, sondern die alltäglichen Kommunikationsprozesse der Alltagsuser/innen, die primär verantwortlich für Verbreitung und Normalisierung judenfeindlichen Gedankenguts sind. Dies bewirkt eine gefühlte und schon habitualisierte Allgegenwart von Judenhass im Netz. Ausgerechnet Online-Kampagnen, die gegen Judenfeindschaft aufrufen, werden innerhalb kürzester Zeit von Antisemitismen überschwemmt. In Solidaritätskampagnen sind die höchsten Zahlen von antisemitischen Texten zu verzeichnen.

Neben den Radikalisierungstendenzen sind aber auch zugleich, und im Widerspruch zu diesen, massive Abwehr- und Relativierungsstrategien Bestandteil des antisemitischen Diskurses, die den Einfluss des Post-Holocaust-Bewusstseins widerspiegeln. Die antisemitische Argumentation weist generell eine eigene emotionale Affektlogik auf:  Antisemiten/innen bewegen sich mental wie in einem Hamsterrad, in das sie die Fakten der realen Welt nicht hineinlassen.

 

Prof. Dr. Monika Schwarz-Friesel ist Antisemitismusforscherin am Institut für Sprache und Kommunikation der TU Berlin.

 

Monika Schwarz-Friesel:
Judenhass im Internet.
Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl.
Berlin: Hentrich & Hentrich 2019

Inhaltsverzeichnis

Bildnachweis: Alex Blăjan / unsplash.com

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