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„Das Böse“ kommt von außen …?

Antisemitismus ist ein Hass (Affekt)

Antisemiten/innen weisen ein erschreckendes Maß an „Normalität“ auf. Die dem Antisemitismus zugrundeliegenden Gefühlsstrukturen und psychischen Reaktionsmuster sind folglich nicht auf eine Psychopathologie oder ein Intelligenzdefizit des Einzelnen zurückzuführen. Genauso wenig können sie aber als anthropologische Konstante gedeutet werden. Denn die autoritären Charakterstrukturen, an die die antisemitische Ideologie andockt, sind wesentlich gesellschaftlich bedingt: Die Einordnung in eine autoritäre Gemeinschaft und die Projektion verpönter Selbstanteile auf „die Anderen“ erfolgt aus einem tiefen Gefühl des Unbehagens heraus, das der Verfasstheit der modernen Gesellschaft entspringt. VON SEBASTIAN WINTER

Antisemitismus ist nicht nur ein nüchternes Fehl- und Vorurteil, dass durch realitätsgerechtere Informationen verschwinden würde, sondern eine affektgeladene Haltung. Jean-Paul Sartre beschrieb dies in seinen Überlegungen zur Judenfrage folgendermaßen: Der Antisemitismus ist „etwas ganz anderes als eine Denkweise. Er ist vor allem eine Leidenschaft.“ Die Haltung der Antisemiten/innen, so Sartre weiter, sei gekennzeichnet von der „Furcht vor dem Menschsein. Der Antisemit ist der Mensch, der ein unbarmherziger Felsen, ein rasender Sturzbach, ein vernichtender Blitz sein will: alles, nur kein Mensch.“1 Das Menschsein, das antisemitisch in der Gewalt gegen Jüdinnen und Juden verfolgt wird, zeichnet in Sartres philosophischer Perspektive ein „Mangel an Sein“ aus, d. h. die Unmöglichkeit einer in sich ruhenden Identität. Gegen diesen Mangel richtet sich der leidenschaftliche Hass, der den Antisemitismus trägt.

Antisemitismus als Ausdruck mangelnder intellektueller Fähigkeiten?

Angesichts dieser leidenschaftlichen Grundlage erscheint die verbreitete Erklärung, Antisemiten/innen seien einfach zu dumm und suchten deshalb mit der antisemitischen Denkweise einfache Erklärungen für die komplexe Welt, eher hilflos. Sie trägt auch statistisch nicht besonders weit. Eine große aktuelle Metastudie hat zwar tatsächlich einen Zusammenhang der „cognitive ability with right-wing ideological attitudes and prejudice“ gemessen. Und die gefundene Korrelation (r = 0.2) ist auch durchaus nicht zu vernachlässigen, aber insgesamt doch eher schwach. So undurchschaubar ist die Welt gar nicht, und auch die meisten Antisemiten/innen wären kognitiv durchaus in der Lage, sich ein realitätsgerechtes Wissen und Argumente anzueignen. Warum tun sie es nicht und greifen stattdessen auf die Phantasmen der antisemitischen Ideologie zurück?

Autoritäre Charakterdisposition und bürgerliche Gesellschaft

Der Antisemitismus entspringt weder Dummheit, noch Wahnsinn, noch schlicht menschlichen Reaktionsmustern. Als Denk- und Handlungsweise ist sein Fundament eine (national-)kulturell und gesellschaftlich bedingte, verstörend weit verbreitete, aber immer auch eine individuelle Entwicklung aufweisende leidenschaftliche Haltung. Sie wurde nicht nur von Sartre beschreiben, sondern beispielsweise auch von Theodor W. Adorno, Erich Fromm, Else Frenkel-Brunswik u. a. mit dem Begriff „autoritärer Charakter“. Dieser ist, in Fromms Worten, „so weitgehend derjenige der Mehrheit der Menschen unserer Gesellschaft, dass er für Forscher, die den Charakter der bürgerlichen Menschen für den normalen und natürlichen halten, infolge der mangelnden Distanz gar nicht zum wissenschaftlichen Problem wird“.2

Merkmale des autoritären Charakters

Die von Sartre genannte „Furcht vor dem Menschsein“ begegnet uns beim autoritären Charakter als Wunsch nach identifikatorischer Unterwerfung unter charismatische Führer bei gleichzeitiger autoritärer Aggression gegen Schwächere. Diese Haltung, die den intersubjektiven und immer auch konfliktreichen Kontakt zwischen Gleichen eintauscht gegen das Dasein als „unbarmherziger Felsen“ bringt folgende Eigenschaften mit sich:

  • „Konventionalismus. Starre Bindung an die konventionellen Werte des Mittelstandes.“
  • „Autoritäre Unterwürfigkeit. Unkritische Unterwerfung unter idealisierte Autoritäten der Eigengruppe.“
  • „Autoritäre Aggression. Tendenz, nach Menschen Ausschau zu halten, die konventionelle Werte missachten, um sie verurteilen, ablehnen und bestrafen zu können.“
  • „Anti-Intrazeption. Abwehr des Subjektiven, des Phantasievollen, Sensiblen.“
  • „Aberglaube und Stereotypie. Glaube an die mystische Bestimmung des eigenen Schicksals, die Disposition in rigiden Kategorien zu denken.“
  • „Machtdenken und ‚Kraftmeierei‘. Denken in Dimensionen wie Herrschaft – Unterwerfung, stark – schwach, Führer – Gefolgschaft; Identifizierung mit Machtgestalten; Überbetonung der konventionalisierten Attribute des Ich; übertriebene Zurschaustellung von Stärke und Robustheit.“
  • „Destruktivität und Zynismus. Allgemeine Feindseligkeit, Diffamierung des Menschlichen.“
  • „Projektivität. Disposition, an wüste und gefährliche Vorgänge in der Welt zu glauben; die Projektion unbewusster Triebimpulse auf die Außenwelt.“
  • „Sexualität. Übertriebene Beschäftigung mit sexuellen ‚Vorgängen‘.“3

Ursprünge des autoritären Charakters

Diese Haltung lässt sich verstehen als Resultat einer autoritären Erziehung, die man in der Kindheit erlitten hat („Erziehung prägt Gesinnung“), aber auch als Reaktion auf aktuelle Schwierigkeiten. Leo Löwenthal argumentiert auf der letzteren Linie und beschreibt als Grundlage die „Malaise“ – das Gefühl der Einsamkeit, Entfremdung, Ohnmacht und inneren Zerrissenheit – die das Dasein in der modernen Gesellschaft als Grundstimmung auszeichnet. Die Malaise spitzt sich zu, wenn die individuell erfahrene Ohnmacht mit der sozialen Spaltung zunimmt, ebenso bei einer besonders autoritären Erziehung. Sie ist aber eben auch jenseits dessen als „Unbehagen“ der allgemeine „Grundzustand des modernen Lebens“, so Löwenthal.4

Kollektiver Narzissmus als Kompensation

Rechte Demagogen/innen bieten mit ihren Ideologien eine „Schiefheilung“ (Freud) dieser Malaise an, das heißt einen Umgang mit ihr, der sie unbewusst macht und stattdessen eine heile Fassade aufbaut: Die autoritäre Haltung und die propagierten Feindbilder verheißen eine „volle Identität“ (Sartre). Deren affektive Struktur hat bereits Sigmund Freud als „Massenpsychologie“ und „Projektion“ beschrieben: Unterwürfig eingefügt in eine Gemeinschaft unter einem idealisierten Führer oder einer Führerin identifizieren sich die Einzelnen miteinander, geben ihr autonomes Selbstsein auf, fühlen sich einig und stark und werden zu „Zellen“ des Großen Ganzen. Das so entstehende Gefühl eines „kollektiven Narzissmus‘“ (Adorno) ermöglicht die grandiose Kompensation des in der Malaise gekränkten individuellen Narzissmus: „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ Das euphorische "Wir"-Gefühl ist viel mehr als nur ein ängstlich befolgter Gruppendruck.

Zusammenhalt durch Feindbildkonstruktion: Projektion abgelehnter Eigenanteile

Nun bleiben die Gemeinschaftszellen aber ja trotzdem Menschen mit all ihren konfliktreichen Beziehungen untereinander, die Malaise verschwindet nicht, sie ist in der Gemeinschaftseuphorie sogar durch die erforderliche Unterwerfung und Selbstaufgabe in der Gruppe noch gesteigert, zugleich aber unbewusst gemacht und versteckt. Um diesen Zustand aufrechtzuerhalten und die Wiederkehr des unbewusst Gemachten zu verhindern, muss die Propaganda nicht nur eine Gemeinschaftsshow inszenieren, sondern auch Feinde anbieten: Wie ein Projektor auf eine Leinwand projizieren die Gemeinschaftszellen auf diese „Feinde“ all das an eigenen unbewusst gemachten Empfindungen, was das harmonische Gemeinschaftsgefühl stören würde. Und wie beim Film scheint das Projizierte dann eine reale Eigenschaft der Leinwand zu sein.

Inhaltsstrukturen rassistischer und antisemitischer Projektionen

Auf die rassistisch bestimmten Feinde werden insbesondere sexuelle, gewaltförmige und antidisziplinäre Impulse projiziert (psychoanalytisch gesprochen: Es-Elemente). Auf der Leinwand erscheint dann beispielsweise der „arabische Vergewaltiger“ oder der „faule, dumme Schwarze“. Die Projektion erlaubt es, sich mit dem zu beschäftigen, was in der Reinheit der Gemeinschaft keinen Platz hat, und es zugleich zu bekämpfen („übertriebene Beschäftigung mit sexuellen ‚Vorgängen‘“ ist eines der Merkmale des autoritären Charakters). Diese Feindschaft ist eine gegen „die Unzivilisierten da unten“.

Im Antisemitismus ist das Projizierte umfänglicher. Neben den eben genannten Aspekten werden hier auch Zweifel, Vernunft, Egoismus und die Gemeinschaft zersetzendes, verkopftes, spielverderberisches Denken entsorgt (Ich- und Über-Ich-Elemente). Die antisemitische Feindschaft gegen „die Überzivilisierten“ geht einher mit einer Spaltung der Autorität: Während die eigenen Führer und Führerinnen verehrt werden, werden für alles Übel „die da oben“ verantwortlich gemacht, „volksverräterische, globalistische Eliten“, letztlich „die Juden“. Erst in dieser „konformistischen Rebellion“, in der Gewalt gegen die so projektiv zu Feinden Bestimmten, kommt die Gemeinschaft wirklich zu sich. Erst in der Gewalt gegen „Die“ lässt sich des „Wir“ rauschhaft und identitär erleben.

 

Dr. Sebastian Winter ist Sozialpsychologe und Historiker. Er ist Mitbegründer der Gesellschaft für psychoanayltische Sozialpsychologie und vertritt aktuell eine Professur für Heilpädagogik an der Hochschule Hannover. 

Anmerkungen

1 Jean-Paul Sartre: Betrachtungen zur Judenfrage. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Politische Schriften 2, [1946], S. 9-97, hier S. 36.

2 Erich Fromm: Theoretische Entwürfe über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil. In: Ders./Max Horkheimer/Hans Mayer/Herbert Marcuse (Hg.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Frankfurt am Main o. J. [1936], S. 77-135, hier S. 113.

3 Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main 1976 [1950], S. 45.

4 Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismus. Schriften 3, Frankfurt am Main 1982 [1949], S. 29.

 

Zum Weiterlesen

Markus Brunner: Vom Ressentiment zum Massenwahn. Eine Einführung in die Sozialpsychologie des Antisemitismus und die Grenzen psychoanalytischer Erkenntnis. In: Charlotte Busch/Martin Gehrlein/Tom D. Uhlig (Hg.): Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus. Wiesbaden 2016, S. 13-35. PDF

Rolf Pohl: Der antisemitische Wahn. Aktuelle Ansätze zur Psychoanalyse einer sozialen Pathologie. In: Guido Follert/Mihri Özdogan/ Wolfram Stender (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis. Wiesbaden 2010, S. 41-68. PDF

Sebastian Winter: Denkweise und Leidenschaft. Diskursanalyse, Ideologiekritik und psychoanalytische Sozialpsychologie in der Antisemitismusforschung. 2013. PDF

 

Bildnachweis: Edilson Borges / unsplash.com

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