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Wie lässt sich Antisemitismus erkennen? Chancen und Grenzen der IHRA-Arbeitsdefinition

Im Januar 2020 geht ein Israeli in einem Club in Berlin-Friedrichshain tanzen. Er kommt mit einem Mann ins Gespräch. Der Mann fragt ihn, woher er komme. Er antwortet: „Israel.“ Daraufhin sagt der Mann zu ihm: „Was euch die Deutschen angetan haben, tut ihr jetzt mit den Arabern!“ Der Israeli weist das entschieden zurück. Im weiteren Verlauf des Gesprächs sagt der Mann: „Ihr habt Bomben und die haben Messer. Was ist denn ein Messer gegen eure Bomben? Hier ich habe sogar selbst eins hier“, und zeigt auf seine Hosentasche. Der Israeli sagt daraufhin den Türstehern des Clubs Bescheid, die den Mann auch durchsuchen, aber kein Messer finden. Der Mann kann daraufhin auf der Party bleiben. Der Israeli verlässt hingegen den Club und die bedrohliche Situation.

Dieser Vorfall wurde der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin gemeldet. Handelt es sich hier um eine antisemitische Äußerung? Die Aussage scheint verquer: Was haben die Deutschen den Israelis angetan? Es liegt nahe, und so hat es auch der betroffene Israeli verstanden, dass der Mann sich auf die Schoa, den millionenfachen Massenmord der Deutschen an den europäischen Jüdinnen_Juden, bezieht. Die Aussage des Mannes macht deutlich, dass er Jüdinnen_Juden mit Israelis gleichsetzt. Diese macht er als homogenisierte Gruppe für eine von ihm als problematisch wahrgenommene Politik gegenüber „den Arabern“ als ebenfalls homogenisierte Gruppe verantwortlich. Gemeint sind in diesem Fall offenbar Palästinerser_innen. Und die israelische Politik einzelner Parteien setzt er in einem weiteren Schritt mit der Vernichtungspolitik der Nazis gegenüber Jüdinnen_Juden gleich. Damit relativiert er zum einen deutsche Verbrechen und dämonisiert zugleich pauschal „Israel“ bzw. „die Israelis“. Beide Denkfiguren werden in der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus, um die es im Folgenden gehen soll und mit der der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V. sowie die regionalen RIAS-Stellen arbeiten, als antisemitisch benannt: „Das Verantwortlichmachen der Jüdinnen und Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Jüdinnen und Juden“ sowie „Vergleiche der aktuellen Politik Israels mit der Politik der Nationalsozialisten“. In diesem Sinne hat RIAS Berlin die Situation als antisemitischen Vorfall erfasst.

Viele staatliche und zivilgesellschaftliche Akteur_innen wie Regierungen, Parteien und Sicherheitsbehörden, aber auch Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser, Clubs und internationale Organisationen, tun sich schwer damit, in Fällen wie diesem Antisemitismus zu erkennen. Die Türsteher_innen des Clubs sind nur ein Beispiel von vielen. Das kann damit zu tun haben, dass diese Akteur_innen selten mit solchen Vorfällen zu tun haben, hierzu folglich wenig Expertise besitzen und in Bezug auf das Erkennen von Antisemitismus nicht sensibilisiert sind. Zudem können antisemitische Einstellungen auch bei ihnen selbst vorhanden sein. Gleichzeitig ist ihre Arbeit in den jeweiligen Institutionen, und daher auch ihr Auftreten und ihre Reaktion, für Betroffene von Antisemitismus in der Regel von immenser Bedeutung.

Seit 2016 gibt es eine Definition, die helfen soll, Antisemitismus wirksam zu bekämpfen – die Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Association (IHRA; im Folgenden: Arbeitsdefinition).

Diese Arbeitsdefinition ist aus der Praxis der Antisemitismusprävention vor dem Hintergrund einer Zunahme antisemitischer Vorfälle in Westeuropa Anfang der 2000er Jahre entstanden: Sie basiert auf einer Definition der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia – EUMC) von 2005, an deren Erstellung auch jüdische zivilgesellschaftliche Organisationen beteiligt waren. Als juristisch nicht bindende Arbeitsdefinition wurde sie am 26. Mai 2016 von den Mitgliedsstaaten auf dem Plenum der IHRA in Bukarest übernommen, um sie in den Kontexten von Antidiskriminierungs- und Polizeiarbeit, Strafverfolgung und Justiz für antisemitische Vorfälle in Schule/Ausbildung, im Wohnumfeld, am Arbeitsplatz und in Geschäften und im Personennahverkehr - also generell im Alltag - zugrunde zu legen. Als Arbeitsdefinition besteht ihre Stärke darin, dass sie eine operative Grundlage darstellt, um Antisemitismus zu erkennen, zu melden, anzuzeigen, zu verfolgen und zu verurteilen. Es handelt sich bei ihr also aber weder um ein rechtsverbindliches Dokument noch versucht sie, Motive für antisemitische Haltungen oder Antisemitismus als historisches Phänomen zu erklären.

 

Die IHRA-Arbeitsdefinition ist immer wieder mit Kritik konfrontiert, was für eine Definition mit dem Anspruch für unterschiedliche Akteur_innen verbindlich zu sein nicht ungewöhnlich ist und sehr produktiv sein kann. Es gehört zu wissenschaftlicher und praktischer Arbeit Definitionen und Begriffe immer wieder neu zu überdenken und kritisch weiterzuentwickeln. Auch RIAS Berlin hat gemeinsam mit anderen Akteur_innen der Berliner Zivilgesellschaft die Arbeitsdefinition vor einigen Jahren für den eigenen Kontext spezifiziert und weiter operationalisiert.[i] Manchmal verwundert jedoch die Vehemenz, mit der diese Kritik an der Arbeitsdefinition vorgebracht wird. So wurde bspw. jüngst mit der sogenannten „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ (JDA)[ii] eine „Alternative“ zur Arbeitsdefinition vorgelegt, die, wie es heißt, aus der "Kritik" an der IHRA-Arbeitsdefinition entstanden sei, da diese „in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedliche Interpretationen offen“ sei, weshalb „sie Verwirrung gestiftet und Kontroversen ausgelöst und damit den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt“ habe. Diese Hinführung weckt hohe Erwartungen, die Hoffnung auf eine neue präzisere Arbeitsdefinition wird allerdings schnell enttäuscht.

 

Zu den größten Schwächen der JDA, die hier lediglich skizziert werden sollen, gehört, dass die Kerndefinition sehr eng ist und deshalb abstrakte und codierte Formen des Antisemitismus nicht fassen kann. „Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)“ heißt es in der JDA. In der Kerndefinition der JDA fehlt somit, ebenso wie übrigens auch in der IHRA-Arbeitsdefinition, eine Berücksichtigung des welterklärenden Charakters von Antisemitismus. Durch die aufreihende Aufzählung scheint die Qualifizierung des Antisemitismus in der Kerndefinition der JDA jedoch als sehr abgeschlossen. Als Betroffene werden in der JDA zudem explizit nur Jüdinnen_Juden genannt. Damit wird negiert, dass sich Antisemitismus auch gegen Nicht-Jüdinnen_Juden richten kann, wie die Forschung zu Antisemitismus sowie die Arbeit von RIAS und anderen zivilgesellschaftlichen Akteur_innen zeigen. Zudem wird Antisemitismus in der ersten der Guidelines, die der Kerndefinition folgen, lediglich als eine Besonderung des Rassismus erfasst, was mit Blick auf Entstehungsgeschichte und Erscheinungsformen von Antisemitismus nicht der Fall ist und auch dem Stand der Forschung nicht entspricht. Darüber hinaus bleibt die JDA in den zentralen Fragen, ob ein Sachverhalt antisemitisch ist, sehr vage. So heißt es für die als „Guidelines“ bezeichneten Beispiele, diese müssten „immer mit Blick auf den jeweiligen Kontext gelesen werden“. (WH mit unten) Das gilt bspw. auch in Bezug auf die codierten Formen von Antisemitimus in den Guidelines der JDA: Diese werden zwar explizit benannt, wie diese Formen jedoch zu erkennen sind, wird lediglich als Abwägungsfrage abhängig vom Kontext dargestellt. Das genaue Verhältnis von Text und Kontext beschreibt die JDA jedoch nicht. Zu der Frage, was zum Kontext zu rechnen sei, wird neben der historischen Bedingtheit von Sprachmustern lediglich die Intention und die Identität der sich Äußernden benannt, nicht aber die Rezeption. Warum Aussagen nicht antisemitisch sein sollen, wenn die Äußernden sie nicht so gemeint haben oder sich nicht als antisemitisch verstehen, ist nicht nachvollziehbar. Zudem wird die Perspektive von Betroffenen auf antisemitische Aussagen in dieser Kontextualisierung nicht berücksichtigt: Wenn ein_e Jüdin_Jude eine Aussage als antisemitische Verletzung wahrnimmt, spielt das hier keine Rolle. Mit dieser Form der Kontextualisierung kann als antisemitisch überhaupt nur noch verstanden werden, was von bekennenden Antisemit_innen geäußert wird.

Zahlreiche Beispiele behandeln zudem Aussagen, die als nicht „per se“ antisemitisch bezeichnet werden. Wann sie es sind und wann nicht, ist mit Hilfe der JDA nicht zu entscheiden - denn hierzu sagt sie nichts. Auch für die Frage, ob oder in welchen Fällen beispielsweise die Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus wie im eingangs zitierten Beispiel antisemitisch ist, liefert die JDA keinen Hinweis. Damit ist sie für alle Praktiker_innen, die anwendungsbezogen und konkret damit arbeiten wollen, nicht operationalisierbar: Auf der Webseite der JDA gibt es keine Hinweise, welche zivilgesellschaftlichen oder staatlichen Organisationen und Akteur_innen in welcher Form bei ihrer Entwicklung eingebunden waren. Akteur_innen wie die Kampagne Boycott, Divestment, Sanctions (BDS) oder die Bezeichnung Israels als ein „Apartheidregime“ werden hingegen ohne Begründung explizit als nicht „per se antisemitisch“ benannt. Zudem wird die Negierung des Existenzrechts Israels in der JDA nicht explizit als antisemitisch benannt, vielmehr spielt die JDA mit dem von der Hamas und anderen arabischen Nationalist_innen genutzten Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“, der ein Verschwinden des jüdischen Staates impliziert. Es handelt sich also nicht um eine für Praktiker_innen sinnvoll erweiterte oder operationalisierbare Definition, sondern um ein politisches Dokument: Dies wird schon daran deutlich, dass sie sich selbst als „Erklärung“ („Declaration“) versteht, eine Präambel und Unterzeichner_innen hat.

Somit zurück zur IHRA-Arbeitsdefinition: Sie besteht aus einer Kerndefinition und elf Beispielen, die sowohl zur Erläuterung dienen als auch Teil der Definition sind. Antisemitismus wird im Kern folgendermaßen bestimmt:[iii] „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen_Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen_Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Damit beschreibt die Arbeitsdefinition den Antisemitismus zunächst in dreierlei Hinsicht: Sie bezeichnet ihn erstens als eine bestimmte Form der Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden. Sie geht zweitens auf die Handlungsebene ein: Antisemitismus wird in Wort und Tat geäußert. Und drittens werden die Betroffenen von Antisemitismus benannt.

Mit dem Bezug auf die Wahrnehmung bezieht sich die Definition also erstens auf einen Prozess, in dem die äußere Welt entsprechend den Möglichkeiten, Auffassungen und (Welt-)Anschauungen der Wahrnehmenden aktiv und selektiv, aber auch unbewusst angeeignet wird. Das heißt Menschen nehmen aus einer Vielzahl von Reizen, Geschehnissen/Ereignissen und Erscheinungen um sie herum immer nur eine bestimmte Auswahl wahr. Die Wahrnehmung ist also durch eine Reihe von Faktoren, also mithin durch frühere Erfahrungen, Interessen, Begehren und Bedürfnisse sowie Anschauungen, Meinungen und Positionen beeinflusst. Die Arbeitsdefinition fokussiert damit auf die antisemitisch Wahrnehmenden. 

Es handelt sich beim Antisemitismus laut Arbeitsdefinition zudem um eine bestimmte Wahrnehmung, denn weder die Auswahl noch die Faktoren, welche die Wahrnehmung bestimmen, sind beliebig. Diese Bestimmung erfolgt im Kern der Arbeitsdefinition aber zunächst nur in einer Hinsicht: Die Wahrnehmung kann sich als Hass ausdrücken, muss es aber nicht. Ansonsten bleibt Antisemitismus erst einmal relativ unbestimmt. Diese relative Unbestimmtheit ist der Definition aber nicht anzulasten. Denn durch sie ist es möglich, dass die Arbeitsdefinition an ganz unterschiedliche Erklärungsansätze anschließen kann. Die Arbeitsdefinition legt fest, dass Antisemitismus in der Wahrnehmung der Antisemiten begründet ist – ob diese Wahrnehmung jedoch als „pathische Projektion“ (Horkheimer/Adorno), als „kultureller Code“ (Volkov), als „Alltagsreligion“ (Claussen), als „nationale Semantik“ (Holz) oder als „negative Leitidee der Moderne“ (Salzborn) verstanden wird, ist für die Arbeitsdefinition erst mal ohne Belang.

Zudem ist diese Unbestimmtheit eben nur eine relative: Durch die elf angeführten Beispiele, die Teil der Definition sind, erfolgt implizit eine Bestimmung. Indem die Arbeitsdefinition nicht mit Hilfe einer abstrakten Definition, sondern mit konkreten Beispielen Antisemitismus bestimmt, wird sie dem dynamischen und insbesondere nach Auschwitz häufig chiffrierten Charakter von Antisemitismus gerecht. Praktiker_innen, die entscheiden müssen ob bspw. eine Schulhofäußerung oder eben eine Äußerung in einem Club antisemitisch ist, können Parallelen und Abweichungen zu den Beispielen ausloten und so zu einer Entscheidung kommen.

Durchaus kritikwürdig ist hingegen, dass die Arbeitsdefinition Antisemitismus als Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden benennt. Denn Antisemitismus ist eine spezifische Wahrnehmung, die erst auf Jüdinnen_Juden übertragen wird. Antisemit_innen kennen häufig keine Jüdinnen_Juden. Sie mutmaßen vielmehr über das Jüdisch-Sein bestimmter Personen oder suchen ganz bewusst nach konkreten Jüdinnen_Juden, die ihre projektiven Wahrnehmungen zu bestätigen scheinen. Theorien und Erklärungsansätze, die antisemitische Einstellungen mit dem realen Verhalten von Jüdinnen_Juden zu erklären versuchen, werden in der Antisemitismusforschung als „Korrespondenztheorien“ bezeichnet und weitgehend verworfen. Korrespondenztheoretische Annahmen teilt die Arbeitsdefinition jedoch nicht, wie spätestens an den gewählten Beispielen deutlich wird: Hier wird nie auf das reale Verhalten von Jüdinnen_Juden abgestellt, stattdessen ist von „Vorwürfen“, „Behauptungen“, „Unterstellungen“ und Ähnlichem die Rede.

Zweitens heißt es in der Arbeitsdefinition, dass sich Antisemitismus in Wort und Tat gegen Betroffene richte. Diese Feststellung klingt vielleicht banal, sie ist aber durchaus bedeutsam. Häufig wird Antisemitismus vor allem als Problem in gesellschaftlichen Debatten insbesondere mit Fokus auf Israel erfasst, beispielsweise in der Auseinandersetzung um die Frage, wo „legitime Kritik“ an israelischer Politik aufhöre und Antisemitismus beginne. Oder als Streitpunkt in Statements von Politiker_innen. Durch die Arbeit der RIAS-Meldestellen wird jedoch sehr deutlich, dass Antisemitismus sich in Deutschland Tag für Tag in verletzendem Verhalten, in Bedrohungen, gezielten Sachbeschädigungen, Angriffen bis hin zur extremen Gewalt niederschlägt, die sich gegen jüdische und nicht-jüdische Menschen und Institutionen richten können. Es ist zudem eine Stärke der IHRA explizit auch verbale, in öffentlichen Debatten reproduzierte Formen von Antisemitismus, wie antisemitische Beleidigungen, Herabwürdigungen und Schmähungen in den Blick zu nehmen und nicht nur schwerwiegende, gewaltförmige Formen. Es ist diese manifeste Handlungsebene, die für die Akteur_innen, an die sich die Arbeitsdefinition als operative Grundlage zur Bestimmung von Antisemitismus richtet, besonders relevant ist.

Dieser Punkt wird umso deutlicher, da die Arbeitsdefinition drittens auch die Betroffenen von Antisemitismus erwähnt: Jüdinnen_Juden, aber auch nicht-jüdische Menschen sowie jüdische Akteur_innen wie Gemeinden. Die Betroffenen in den Blick zu nehmen ist eine weitere Stärke der Arbeitsdefinition. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass sich Antisemitismus, wie in der Definition festgehalten, nicht nur gegen Jüdinnen_Juden richtet. Auch Menschen, die als „jüdisch“ wahrgenommen werden, denen bestimmte als „jüdisch“ identifizierte Eigenschaften zugeschrieben oder die mit vermeintlich „jüdischen“ gesellschaftlichen Bereichen assoziiert werden, können von Antisemitismus betroffen sein. Dieses abstrakt-kontinuierliche, häufig als „strukturell“ bezeichnetes Moment des Antisemitismus, wird mit der Arbeitsdefinition nicht explizit benannt.  Eine theoretisch begriffliche Bestimmung des Antisemitismus enthält die Definition, wie bereits erwähnt, nicht. Die Beispiele eröffnen jedoch die Möglichkeit, an derartige Verständnisse anzuschließen: Denn sie machen bestimmte Muster, die Antisemitismus vom bloßen Vorurteil oder der generellen Ablehnung von Jüdinnen_Juden unterscheiden, sichtbar. In diesem Sinne dienen die Beispiele der Veranschaulichung, sind aber zugleich Teil der Definition.

Der Bundesverband RIAS hat im vergangenen Jahr ein Handbuch zur praktischen Anwendung der IHRA-Definition im Auftrag der Europäischen Kommission erstellt, welches die unterschiedlichen Beispiele erläutert und mit realen antisemitischen Vorfällen aus ganz Europa illustriert. Basierend auf 71 Datensätzen aus 27 EU-Mitgliedstaaten und dem Vereinigten Königreich werden zudem in dem Handbuch 35 Good Practice-Beispiele für die praktische Anwendung der Definition in den Bereichen Strafverfolgung, Justiz, Bildung, staatliche Förderung, Sport und Zivilgesellschaft benannt. Gemeinsam mit zwei internationalen Experten der Antisemitismus-Prävention befragte der Bundesverband RIAS hierfür jüdische Gemeinden, Vertreter_innen der Zivilgesellschaft, Mitglieder der Arbeitsgruppe Antisemitismus der Europäischen Kommission sowie Expert_innen der IHRA und der EU-Grundrechteagentur. Die Beispiele bieten so Hinweise, wie konkret die Arbeitsdefinition Antisemitismus genutzt werden kann. Die Studie hat gezeigt, dass die IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus bereits ihre Wirkung entfaltet. Dazu gehört beispielsweise die Verabschiedung eines Verhaltenskodex zum Thema Antisemitismus für Universitäten durch das rumänische Bildungsministerium, in dem die IHRA-Arbeitsdefinition unter § 3 erwähnt wird. Die Nationale Universität für Theater und Film I. L. Caragiale in Bukarest hat diesen Verhaltenskodex gegen Antisemitismus im November 2019 verabschiedet. In ihrer Präambel heißt es: „Die Universität verpflichtet sich eine integrative Kultur, Gleichheit und Wertevielfalt zu fördern und ein Arbeits-, Lern- und soziales Umfeld zu erhalten, in welchem die Rechte und die Würde aller Mitarbeitenden und Studierenden geachtet werden. Die Universität ist sich bewusst, dass Antisemitismus und seine Erscheinungsformen dieser Verpflichtung widersprechen. Historische Manifestationen von Antisemitismus haben gezeigt, wie Vorurteile und Intoleranz zu systematischer Belästigung und Diskriminierung führen können. Auch heute noch erleben Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in ganz Europa täglich hartnäckige Stereotype, Beleidigungen und körperliche Gewalt." Das Beispiel deutet an, wie die IHRA trotz aller berechtigter Kritik als Orientierungshilfe Wirkung entfalten und die von Antisemitismus im Alltag Betroffenen unterstützen kann.

 

[i] Vgl. https://report-antisemitism.de/rias-berlin .

[ii] https://jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/2021/03/JDA-deutsch-fi  nal.ok_.pdf.

[iii] Die gesamte Arbeitsdefinition findet sich auf Deutsch hier: https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus.

Bildnachweis: Markus Winkler / unsplash.com

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