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Bild, das eine große Autobahnkreuzung zeigt.

Multidirektionalität in der erinnerungspolitischen Bildungsarbeit. Ergebnisse aus der empirischen Forschung

In diesem Artikel verhandelt Sina Arnold das Potenzial von Multidirektionalität in der erinnerungspolitischen Bildungsarbeit, basierend auf Ergebnissen aus der empirischen Forschung.

In seinem 2009 erschienenen Buch Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung will der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg anhand historischer und literarischer Beispiele aufzeigen, wie sich das Gedenken an verschiedene geschichtliche Ereignisse – etwa den Kolonialismus und den Holocaust – verbinden lässt. Und zwar ohne, dass die jeweilige Besonderheit verloren geht, und ohne, dass diese Erinnerungspolitiken in Konkurrenz miteinander stehen müssen. Seit Erscheinen der deutschen Übersetzung 2021 wurde das Konzept in journalistischen und wissenschaftlichen Debatten stark diskutiert und kritisiert. Geäußert wurde insbesondere die Sorge, dass beim Blick auf Gemeinsamkeiten und Überschneidungen die Spezifik des Holocaust aus den Augen geraten und es im Effekt zu seiner Relativierung kommen könnte. Gleichzeitig wurde das Konzept im pädagogischen Bereich interessiert aufgenommen, knüpft es doch an viele aktuelle Fragestellungen zu Geschichtsvermittlung in von Migration geprägten Lernumgebungen an. Empirische Erkenntnisse zur Wirkungsweise einer multidirektionalen Perspektive liegen indes bisher kaum vor.

Multidirektionale postmigrantische Gegenwart?

In einem Projekt des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt[1] wurde in Kooperation mit akademischen und Praxispartnern der Frage nachgegangen, ob sich multidirektionale Perspektiven in der postmigrantischen deutschen Gesellschaft finden lassen.[2] Wo und wie zeigt sich eine Verwobenheit erinnerungspolitischer Narrative insbesondere im Bildungsbereich, und was befördert oder behindert sie?

Zusammen mit dem Bildungsprojekt Der Gang der Geschichte(n) von Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung[3] wurden dafür Interviews mit syrischen Migrant:innen geführt, die als pädagogische Multiplikator:innen tätig waren. Und gemeinsam mit Sebastian Bischoff von der Universität Paderborn wurden weitere Interviews aus vergangenen Forschungsprojekten neu analysiert.[4] Insgesamt lagen somit 124 Interviews mit Bildungsakteur:innen aus Gedenkstätten und Museen, Schule und Ehrenamt, Geschichtsinitiativen sowie Schulbuch-Redaktionen vor. Uns interessierte, was diese Multiplikator:innen beobachten: Bei welchen Themen und wie findet sich in Lernumgebungen Gemeinsames und Verbindendes? Wann und wie zeigen sich Konkurrenz und Trennungen? Und unter welchen Bedingungen findet Multidirektionalität statt? Insbesondere die Sichtweisen geflüchteter Multiplikator:innen und Teilnehmer:innen waren dabei – wenige Jahre nach der Ankunft vieler Menschen aus unter anderem Syrien, dem Irak, Afghanistan 2015/16 – interessant.

Identifikation mit jüdischer Verfolgungsgeschichte

Die meisten Berichte aus aus dem Bildungsbereich waren dabei eher von Konkurrenz oder Gleichgültigkeit geprägt. Multiplikator:innen beobachteten Konflikte entlang von Themen wie dem Nahostkonflikt, dem Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg, dem Genozid an den Armenier:innen 1915/1916, aber auch der allgemeinen Geschichte des Osmanisches Reiches.

Doch es zeigen sich auch immer wieder wechselseitige Bezugnahmen auf historische Ereignisse, die ohne Konkurrenz oder Gleichsetzungen auskommen. Das zentrale „Referenzereignis“ ist dabei die Ausgrenzung, Verfolgung oder auch Flucht europäischer Juden:Jüdinnen im Nationalsozialismus. Ein:e Mitarbeiter:in eines jüdischen Museums berichtet etwa, wie die dort beschriebene Minderheitenerfahrung manchen Besucher:innen mit Fluchtgeschichte Anknüpfungspunkte zur Identifikation bietet. Sie helfe, eigene Ausgrenzungserfahrungen auszudrücken und befördere Empathie gegenüber jüdischer Geschichte. In ähnlicher Weise erzählt ein:e Mitarbeiter:in einer KZ-Gedenkstätte über Führungen mit geflüchteten Menschen, dass es bei diesen eine „große emotionale Nähe zu den Häftlingen gibt. Und auch so ein persönliches Entsetzen über Geschichten, wo sie Verbindung sehen zu ihren eigenen. Ob das während [der] Verfolgung ist oder oft auch in der Zeit danach. Wo ja viele Leute auch viele Fluchten hatten.”[5] Ein:e Andere:r beobachtet Ähnliches:

Viele derjenigen, die nach Deutschland gekommen sind, wurden auch verhaftet, waren mehrfach in Gefängnissen, wurden zum Teil auch gefoltert. Dieses Gefühl ist natürlich hochgekommen beim Durchlaufen der Gedenkstätte. Wenn man die Räumlichkeiten gesehen hat, haben sich viele doch an ihre Erfahrungen erinnert gefühlt und konnten einfach viel besser nachvollziehen als zum Beispiel ich, was es bedeutet, das durchzuleben. [...] Aber man hat doch festgestellt, dass immer wieder über die eigene Erfahrung gesprochen wurde durch die Eindrücke von außen.

Hier deutet sich tatsächlich Multidirektionalität an: Durch die Auseinandersetzung mit jüdischer Verfolgung im Nationalsozialismus wird begonnen, über die eigenen jüngeren Erfahrungen in Syrien zu sprechen. Und umgekehrt bieten die eigenen Erfahrungen einen Anknüpfungspunkt für Empathie mit jüdischen Schicksalen.

Perspektiven Geflüchteter auf deutsche Geschichte

Für einige syrische Interviewpartner:innen zeigen sich aber auch ganz andere Verbindungen zwischen ihren eigenen Erfahrungen und Erinnerungspunkten in der deutschen Geschichte. Eine Interviewpartnerin ist Mitarbeiterin im Projekt Multaka: Treffpunkt Museum.[6] Dort werden syrische und irakische Neuangekommene zu Museums-Guides fortgebildet, und können dann wiederum für arabischsprachige Menschen, zumeist Geflüchtete, Touren im Pergamonmuseum oder dem Deutschen Historischen Museum (DHM) anbieten. Die damals 28jährige „Halima“[7], Juristin aus Damaskus, war zum Zeitpunkt des Interviews seit sechs Jahren in Deutschland. Gefragt, ob sie sich mit einem Teil der deutschen Geschichte identifizieren kann, nennt sie den Dreißigjährigen Krieg 1618-1648, die deutsche Emigration im 19. Jahrhundert und den Wiederaufbau Deutschlands in der Nachkriegszeit – denn religiöse Konflikte und Auswanderung kennt sie als Syrerin, und die Hoffnung auf Wiederaufbau des zerstörten Landes bewegt sie.

Auch in ihren Touren sind diese Themen wiederholt Anknüpfungspunkte für andere geflüchtete Besucher:innen. Manchmal zeigt Halima diesen im DHM das Bild Abschied der Auswanderer, gemalt von Antonie Volkmar 1860.[8] Darauf ist ein kleines Ruderboot auf stürmischer See zu sehen, darin etwa zehn deutsche Auswanderer:innen – darunter kleine Kinder – die zu einem großen Segelschiff mit Reiseziel USA übersetzen. Ein Junge winkt ein letztes Mal Richtung Festland, die wenigen Habseligkeiten liegen auf dem Boden des Bootes, die Stimmung ist ernst und angespannt. Den geflüchteten Betrachter:innen kommt die Szene bekannt vor, so Halima: "Und das ist für die Leute immer relevant, ständig, weil ich immer die gleichen Fragen stelle: 'Und, seht ihr das?' Und dann sagen sie meistens: 'Na ja, das sind syrische Flüchtlinge, die auf einem Boot fliehen', und sie lachen. Das ist also etwas, womit sie sich identifizieren können." Die Besprechung des Bildes ermöglicht in der Folge nicht nur eine Beschäftigung mit der eigenen Flucht, sie kehrt auch den Blick auf das Ankunftsland um: Deutschland erscheint nicht mehr nur als Einwanderungsland, sondern auch als ein Land, welchem Menschen aus ähnlichen Motiven wie heutige Geflüchtete einst den Rücken zukehrten (Armut, Verfolgung, der Wunsch nach einem besseren Leben für die eigenen Kinder etc.); eine Sichtweise, die in öffentlichen Debatten um – und oftmals gegen – Einwanderung teilweise aktiv verdrängt wird. Multidirektionalität bedeutet hier also: Die eigene Erfahrung wird unter dem Eindruck einer Migrationsdarstellung artikulierbarer, und umgekehrt wird es auf ihrer Grundlage leichter, an die deutsche Geschichte anzuknüpfen.

Wie kann Multidirektionalität gelingen?

Unterschiedliche Faktoren tragen dazu bei, dass multidirektionale Perspektiven in der Erinnerungsarbeit befördert oder verhindert werden.

So beobachten mehrere Multiplikator:innen erstens, dass das Interesse an anderen Erinnerungen und die Bereitschaft zu Perspektivwechsel dann ausgeprägt sind, wenn persönliche Erfahrungen und ein autobiographischer Bezug bestehen. Auch Begegnungen mit vermeintlich „Anderen” oder globale Erfahrungen – etwa längere Auslandsaufenthalte – können zu Perspektivwechseln beitragen.

Zweitens befördern bestimmte inhaltliche Positionen gegenseitige Bezugnahmen. Dazu gehören eine grundlegende rassismuskritische Haltung, die auch für Rassismus in der Vergangenheit sensibilisiert, Kritik an der Homogenisierung von Gruppen, oder eine universalistische Position, die jede Form von kollektiver Gewalt in den Blick nimmt. Eine besondere Bedeutung kommt der Ablehnung einer nationalen Perspektive zu: um vielschichtiges Erinnern zu befördern, so sagen Multiplikator:innen, müsse Geschichte weniger als Nationalgeschichte gedacht und vermittelt werden. Gemeinsame Geschichte bezöge sich dann weniger auf Nationalstaaten, sondern etwa auf eine bestimmte Region oder die Weltgeschichte.

Bestimmte strukturelle Aspekte beeinflussen drittens multidirektionales Erinnern: So müssen marginalisierte Perspektiven überhaupt erst sichtbar gemacht werden – sei es das Leben schwarzer Deutscher im Nationalsozialismus, muslimische Retter von Juden, oder jüngere Erfahrungen derjenigen, die von Rassismus betroffen sind. Auch gesellschaftliche Institutionen, etwa die Schule, tragen zu diesen Marginalisierungen bei. Es gälte aber auch, so äußern einige Interviewpartner:innen, die Gründe für diese zu hinterfragen, etwa „inwiefern struktureller Rassismus dahintersteckt, wenn nur deutsch-deutschen Jugendlichen die Möglichkeit gegeben wird, aus ihrer Perspektive Geschichte zu verstehen”.

Viertens benennen die Befragten zahlreiche pädagogische Prinzipien, die ihnen in Bildungssettings ein Verständnis verschiedener Erinnerungen eröffnen. Etwa das Zulassen von Kontroversen, lebensgeschichtliche Zugänge, narrative Methoden, angstfreie und nichthierarchische Räume, Partizipationsmöglichkeiten und das explizite Einbringen von Multiperspektivität in Bezug auf historische Ereignisse. Daran knüpfen auch „soft skills“ an, etwa das Ernstnehmen des Gegenübers, Respekt, Zuhören, und vor allem die Ausbildung von Empathiefähigkeit, welche einen Perspektivwechsel und das Mitfühlen erleichtert.

Wie vergleichen?

Multidirektionalität, so zeigte sich in der Forschung, ist in Bildungssettings weder per se positiv noch negativ. Sie kann zu verkürzten Vergleichen oder gar Gleichsetzungen führen, bei denen kein Erkenntnisgewinn über historische Ereignisse und ihre Wirkung entsteht. Eine multidirektionale Perspektive kann aber auch zu mehr historischer Erkenntnis und Empathie führen – und aus der identitären Logik mancher kollektiver Erinnerungen ausbrechen. Um Empathie für unterschiedliche historische Erfahrungen und Kritik gegenüber nationalen Vereinnahmungen zu befördern, braucht es somit auch in der Bildungsarbeit ein „solides empirisches Wissen über die verschiedenen Geschichten“, gekoppelt mit einer „nuancierte[n] Ethik des Vergleichs“.[9]

 

[1] „Zwischen Antisemitismus, Rassismus und Flucht – Multiperspektivische Zugänge zu Juden / Judentum, Nahostkonflikt und Holocaust in der post-migrantischen Gesellschaft“, vgl. https://www.fgz-risc.de/forschung/alle-forschungsprojekte/details/BER_F_03.

[2] Arnold, Sina/Bischoff, Sebastian: Marginal(ized) plurality: An empirical conceptualization of Michael Rothberg’s “multidirectional memory” in German educational settings. in: Memory Studies (2023), 0(0). https://doi.org/10.1177/17506980231155562; Arnold, Sina/Bischoff, Sebastian: Vom Getrennten und Gemeinsamen. Bedingungen multidirektionalen Erinnerns in der Migrationsgesellschaft, in: Georgi, Viola B./Lücke, Martin/Meyer-Hamme, Johannes/Spielhaus, Riem (Hrsg.), Geschichten im Wandel. Neue Perspektiven für die Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft. Bielefeld 2022, S. 361-372; Arnold, Sina/Lenuweit, Tanja: Transferorientierte Forschung und historisch-politische Bildungsarbeit mit syrischen Geflüchteten – Chancen und Herausforderungen. In: Backhaus-Maul, Holger/Fücker, Sonja/Grimmig, Martina/Kamuf, Viktoria/Nuske, Jessica/Quent, Matthias (Hrsg.) (2023): Forschungsbasierter Wissenstransfer und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Theorie, Empirie, Konzepte und Instrumente [Arbeitstitel]. Frankfurt (im Erscheinen).

[4] „Flucht und Antisemitismus: Qualitative Befragung von Expert_innen und Geflüchteten“ (Humboldt-Universität zu Berlin, vgl. Arnold/König 2018); „Geschichten in Bewegung. Erinnerungspraktiken, Geschichtskulturen und historisches Lernen in der deutschen Migrationsgesellschaft“ (Universität Paderborn u.a., vgl. https://geschichten-in-bewegung.hosting.uni-hildesheim.de).

[5] Alle Zuordnungen von Zitaten können nachgelesen werden in Arnold/Bischoff 2022, 2023.

[7] Der Name ist ein Pseudonym.

[9] Rothberg, Michael, Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter de Dekolonisierung. Berlin 2021, S. 11.

Bildnachweis: Denys Nevozhai / unsplash.com

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