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Zur Funktion von Vorurteilen und Antisemitismus

Wie Ausgrenzung funktioniert

Antisemitismus hat mit realen Jüdinnen und Juden wenig zu tun, aber für Antisemiten/innen erfüllt er spezifische Funktionen. In dieser Methode analysieren die Teilnehmenden Grundlagen und Funktionen sozialer Gruppenbildungsprozesse und Zuschreibungen. Historische Fallbeispiele zeigen antisemitische Denkmuster und Handlungen sowie die dahinterliegenden Motivationslagen auf.

Allgemeine Informationen

Konzeptioneller Zugang

Wie kann das Thema Antisemitismus kritisch bearbeitet werden, ohne lediglich eine Geschichte des Antisemitismus zu erzählen oder ungewollt die Konstruktion einer Gruppe ‚der Juden‘ im pädagogischen Prozess zu reproduzieren? Den Ausgangspunkt eines selbstreflexiven Lernens bildet hier deshalb die Sensibilisierung der Teilnehmenden für soziale Prozesse der Gruppenbildung, für Zuschreibungen sowie für Ein- und Ausschlussmechanismen. Worin besteht die Attraktivität antisemitischer Deutungen oder dem Aufgreifen antisemitischer Ideologeme, und welchen Nutzen bringen sie dem Individuum oder einer Gruppe? Anstatt den Blick auf reale Jüdinnen und Juden zu richten, stehen hier die Träger/innen des Vorurteils im Fokus.

Lernziele

Die TN sind dafür sensibilisiert, Gruppenbildungsprozesse sowie soziale Ein- und Ausschlussmechanismen zu erkennen und zu hinterfragen. Sie wissen, dass Vorurteile und Zuschreibungen soziale Konstruktionen darstellen und sind sich ihrer Funktion(en) bewusst. Sie kennen Beispiele aus der Geschichte des Antisemitismus und wissen um deren Funktion.

Material

Material-Download, unterschiedliche Aufkleber (aber jeweils mindestens zwei identische), Stifte, Papier, Moderationskarten, Flipchartpapier

Zeit

200 Min (55 Min/55 Min/90 Min)

 

Schritt 1: „Konstruktion von Gruppen“

Punkte-Übung (20 Min)

Die TN werden jeweils mit einem Aufkleber auf der Stirn markiert. Die Markierungen sollen sich voneinander unterscheiden. Dafür eignen sich z.B. Klebepunkte verschiedener Formen, Farben oder Materialien. Damit die TN nicht schon vorher wissen, worin die eigene Markierung besteht, schließen sie Augen, während die Teamenden ihnen die Aufkleber auf die Stirn kleben. Zwei der TN enthalten keine Markierung. Jetzt wird die folgende Aufgabe gestellt: Ohne miteinander zu sprechen, sollen die TN innerhalb der nächsten 10 Minuten selbstständig und völlig frei Gruppen bilden. Wenn die Zeit um und der Prozess der wortlosen Gruppenbildung abgeschlossen ist, setzen sich die TN in ihren jeweiligen Gruppen zusammen.

Alle erhalten einen Stift und ein Blatt Papier. Den folgenden Arbeitsauftrag bearbeiten sie individuell, also jede/r für sich. Dafür bekommen sie 5 Minuten Zeit, um sich stichpunktartig Antworten zu notieren.

 

Frage

  • Welche Merkmale haben uns zu einer Gruppe gemacht?

 

Auswertung (30 Min)

Zur Auswertung der Übung setzen sich alle in einem Stuhlkreis zusammen. Im gemeinsamen Gespräch reflektieren und analysieren die TN, wie der Gruppenbildungsprozess sich vollzogen hat. Dabei wird herausgearbeitet, in welchem Maße äußerliche Merkmale oder bloße Zuschreibungen über Zugehörigkeit oder Ausschluss bestimmen. Ausgehend von ihren in der Übung gemachten Erfahrungen werden die TN dann nach vergleichbaren Beispielen aus ihrem Alltag befragt.

 

Hinweis: In der Diskussion sollte deutlich werden, dass jede Gruppenidentität letztlich ein Konstrukt darstellt, weil die Merkmale oder Eigenschaften, die über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe entscheiden, immer willkürlich festgelegt werden (können).

 

Fragen

  • Was macht euch zu einer Gruppe?
  • Welche Rolle spielten dabei die Aufkleber?
  • Wie verlief der Prozess der Gruppenbildung, also was ist passiert, bis ihr zu einer Gruppe geworden seid?
  • War euch sofort klar, warum ihr euch zu einer Gruppe zusammentut?
  • Habt ihr euch in der Gruppe willkommen, nur geduldet oder sogar ausgegrenzt gefühlt?
  • Wer hat bestimmt, ob ihr der jeweiligen Gruppe zugeordnet wurdet?
  • Was passierte mit den Personen, die nicht das gemeinsame Merkmal der eigenen Gruppe hatten?
  • Fallen euch noch weitere Merkmale ein, die euch zu einer Gruppe machen könnten?
  • Kennt ihr andere Beispiele dafür, dass Menschen aufgrund von einfachen Merkmalen ausgeschlossen wurden oder sich zusammengefunden haben?
  • Fallen euch Beispiele dafür ein, dass Menschen einer bestimmten Gruppe zugeteilt wurden, obwohl sie sich dieser gar nicht zugehörig fühlten?

 

Visualisierung (5 Min)

Im Anschluss an die Übung erfolgt eine zusammenführende Visualisierung durch die Teamenden (Schaubild A).

 

Schritt 2: „Zuschreibungen/Motivation“

Aussagen-Übung (40 Min)

Die TN finden sich in 5 Arbeitsgruppen zusammen, je nach Größe der Gesamtgruppe. Jede Gruppe erhält Stifte und Moderationskarten oder Flipchartpapier sowie eine der folgenden Aussagen (siehe Material).

 

Aussagen

„Die Menschen in Bayern sind rückständig und hängen altmodischen Bräuchen an. Die meisten von ihnen tragen Lederhosen und Dirndl, trinken viel Bier und ernähren sich sehr schlecht (mit Weißwurst, Knödeln). Deshalb sind sie häufig krank. Die Bayern sind eine Belastung und schaden dem Ansehen Deutschlands in der Welt.“

„Das Christentum ist die einzig wahre Religion. Nur durch das Christentum und die Einhaltung der zehn Gebote ist ein ethisch und moralisch richtiges Leben möglich. Alle anderen Religionen haben mit den Grundwerten unserer Gesellschaft nichts zu tun. Als Christ sollte man aber trotzdem für alle Menschen beten.“

„Alle Norweger sind faul und nicht besonders intelligent. Die meisten von ihnen neigen zu kriminellen Handlungen. In ihrer Heimat wissen sie nichts mit sich anzufangen, also ziehen sie in schönere Länder. Im Ausland lebende Norweger wollen sich nie in die Gesellschaft integrieren, sondern bleiben unter sich. Überall breiten sie sich aus und tun so, als wären sie zu Hause.“

„Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen war ein Fehler. Seither geht es in Politik und Wirtschaft drunter und drüber. Männer können rationaler denken. Es wäre für alle besser, wenn Frauen kein Wahlrecht hätten und nicht arbeiten würden.“

„Alte Menschen haben keine Ahnung vom Leben. Sie sind konservativ und nur auf einen ruhigen Lebensabend aus. Alte Menschen sollten kein Mitspracherecht bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen haben. Auch sollten sich junge Menschen nicht mehr um Alte kümmern müssen.“

 

Die Arbeitsgruppen haben jetzt 15 Minuten Zeit, um die jeweiligen Aussagen zu diskutieren und die nachstehenden Fragen zu beantworten. Ihre Ergebnisse sammeln sie auf Moderationskarten oder Flipchartpapier. Der Arbeitsauftrag bzw. die folgenden Fragen zur Bearbeitung der Aussagen werden für alle gut sichtbar auf einem vorbereiteten Flipchart präsentiert.

 

Fragen

  • Welche Gruppe(n) werden durch diese Aussage erzeugt und was wird ihnen unterstellt?
  • Welches Motiv könnte der Aussage zugrunde liegen? Was also könnte uns die Aussage über diejenigen verraten, die so etwas denken und/oder sagen?
  • Findet 2-3 Argumente gegen die in der Aussage gemachten Behauptungen.

 

Nach dieser Gruppenarbeit kommen alle TN wieder im Stuhlkreis zusammen und die einzelnen Arbeitsgruppen präsentieren nacheinander ihre Ergebnisse (je 5 Min). Die übrigen TN können gegebenenfalls Nachfragen stellen, falls Unklarheiten bestehen.

 

Hinweis: Eine vertiefende Diskussion ist an dieser Stelle nicht unbedingt vorgesehen. Vielmehr geht es in dieser Übung lediglich darum, nochmals an konkreten Beispielen plakativ Funktionsweisen von Gruppenkonstruktion und Zuschreibungen zu veranschaulichen. Die Aussagen sind so gestaltet, dass sich an ihnen wesentliche Strukturen und Merkmale von Vorurteilen und Zuschreibungen herausarbeiten lassen. Sie enthalten grobe Verallgemeinerungen, forcierte Überspitzungen, bösartige Unterstellungen, offensichtliche Falschaussagen und teils absurde Behauptungen. Die bewusste Überspitzung erleichtert es, den irrationalen Kern dieser Aussagen zu erkennen. Im Vordergrund steht aber die Erkenntnisabsicht, dass Vorurteilen auch konkrete Motivationen zugrunde liegen, sie also für die Vorurteilsträger durchaus einen bestimmten Sinn erfüllen können. Damit wird also zugleich eine rationale Seite der Vorurteilsstruktur angesprochen, die in der die Übung abschließenden Visualisierung explizit veranschaulicht wird.

 

Visualisierung (15 Min)

Im Anschluss an die Übung erfolgt eine zusammenführende Visualisierung durch die Teamenden (siehe Material). Dazu wird das nach der „Punkte-Übung“ erstellte Schaubild weiter ergänzt (Schaubild B).

 

Schritt 3: „Antisemitismus“

Gruppenarbeit (75 Min)

Die TN werden in vier Arbeitsgruppen aufgeteilt. Jede Gruppe erhält einen eigenen Text sowie ein Flipchartpapier und Stifte. Die in den Texten behandelten Beispiele aus der Geschichte des Antisemitismus umfassen die Themen „Ritualmordlegende“, „Hep-Hep-Unruhen“, „Gründerkrise“ und „Dreyfus-Affäre“ (siehe Material).

Die Arbeitsgruppen sollen ihre Texte aufmerksam lesen und Fragen dazu beantworten. Dafür sammelt jede Gruppe Stichpunkte, die sie für die spätere Präsentation auf einem Flipchartpapier notiert. Die Fragen des Arbeitsauftrags sind für alle gut sichtbar auf ein vorbereitetes Flipchartpapier geschrieben.

 

Fragen

  • Welches Ereignis oder Geschehen wird in eurem Text vorgestellt? Was genau passierte dabei?
  • Welche Vorwürfe oder Zuschreibungen gegenüber jüdischen Menschen tauchen in dem Text auf?

 

In den Gruppen erarbeiten sich die TN nun die Inhalte ihrer Texte und erstellen dabei ihr Plakat für die Präsentation. Die Teamenden stehen für inhaltliche Nachfragen zur Verfügung.

Präsentation: Nach der Textarbeit setzen sich alle TN im Stuhlkreis zusammen, um sich gegenseitig ihre Ergebnisse zu präsentieren, und zwar in chronologischer Reihenfolge der dargestellten Ereignisse: 1) „Ritualmordlegende“, 2) „Hep-Hep-Unruhen“, 3) „Gründerkrise“, 4) „Dreyfus-Affäre“.

 

Visualisierung (15 Min)

Die Teamenden tragen die Ergebnisse der Gruppenarbeit noch einmal zusammen. Dabei setzen sie diese explizit zu dem in Schritt 1 und Schritt 2 erarbeiteten Schaubild in Beziehung. Sie veranschaulichen also an den bearbeiteten Beispielen aus der Geschichte des Antisemitismus, wie „die Juden“ als „Fremd“-Gruppe konstruiert und mit negativen Zuschreibungen versehen werden und verdeutlichen, welche Funktion/Motivation dem zugrunde liegt.

Die Visualisierung erfolgt in zwei Teilen, wiederum mithilfe vorbereiteter Karten (siehe Material): Im ersten Teil werden einige wichtige Merkmale des Antisemitismus zusammengefasst. Im zweiten Teil werden ausgewählte Aspekte aus der Geschichte des Antisemitismus hervorgehoben. In beiden Teilen werden die einzelnen Karten der Visualisierung unter Bezugnahme auf die in der Gruppenarbeit behandelten Fallbeispiele erläutert (Schaubild C).

Quelle

KIgA e.V. (Hg.): Widerspruchstoleranz. Ein Theorie-Praxis-Handbuch zu Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit. Berlin 2013. PDF

 

 

Bildnachweis: AllzweckJack / photocase.de

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