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Auge um Auge - Wie ein christliches Weltbild ein Ressentiment schürt und verbreitet.

Wenn deutsche Medien mal wieder zeigen wollen, wie blutrünstig Israelis (oder Juden) sind, greifen sie im Titel schnell zu einer wirklich ollen Kamelle. Dann wird die Thora, oder wie Christen sagen: das „Alte Testament“ zitiert: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“.

Klingt wirklich furchtbar, nicht wahr? Doch die Titelmacher haben ganz offensichtlich keine Ahnung, was dieser Satz aus dem zweiten Buch Moses wirklich bedeutet. Auf gar keinen Fall „Rachegelüste“. Schuld an diesem „Missverständnis“ ist kein Geringerer als Martin Luther. Der übersetzte die Thora nämlich falsch, vielleicht sogar absichtlich, das ist schwer zu sagen. Denn das „um“ im Deutschen, ist auf Hebräisch: „tachat“ und bedeutet: „anstelle von“. Es gibt zahlreiche Stellen in der Thora und auch im Talmud, die sehr deutlich machen, dass es nicht und nie um Rache geht, sondern um einen angemessenen Schadensersatz im Sinne von Maß für Maß. Der Geschädigte musste vom Täter für seinen Schmerz, Gewerbsausfall oder andere Nachteile Schadensersatz erhalten. In den folgenden Versen 23 – 25 geht es ja noch weiter. Da heißt es nicht nur „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, sondern auch „Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme.“

Damit wollte die Thora verdeutlichen, dass man die Schwere des Schadens ganz genau feststellen soll, um eine genaue Entsprechung von Schaden und Strafe zu erreichen. Damit ist dieses sogenannte Talionsgesetz (ius talionis, ein christlich geprägter Begriff) eines der ersten Sozialgesetze der Menschheit und absolut kein Gesetz der grausamen Vergeltung. Immer wieder wird im gesamten „T’nach“, den Heiligen Texten des Judentums, Bezug darauf genommen. In den Sprüchen, 24, 29 heißt es beispielsweise: „Sprich nicht: ‚wie einer mir tut, so will ich ihm auch tun und einem jeglichen sein Tun vergelten‘“.

Die – antisemitische – Deutung dieses Satzes, die den Juden besonders schreckliche Charaktereigenschaften zuschreibt, wird aber auch auf den „jüdischen Rachegott“ übertragen, wie das im Christentum früher hieß. Diesem furchtbaren Gott aus dem „Alten Testament“ steht dann das Liebesgebot aus dem christlichen „Neuen Testament“ gegenüber. Jesus wird da zur Figur, die die Liebe lehrt. Und die bösen Juden verweigern sich, sie wollen diese wunderbare Botschaft nicht übernehmen oder gar lehren.

Doch leider ist auch das eine (christliche) Fehlinterpretation, um nicht zu sagen: bewusste antijüdische Verdrehung von Fakten. Heute würde man sagen: „Fake News“. Denn der vielzitierte Satz „Lieben deinen Nächsten wie dich selbst“, der in der christlichen Interpretation gerne Jesus zugeschrieben wird, befindet sich in – ja, genau – der Thora. In Leviticus, 19, 18. Dieses Gedankenmotiv wird in der Thora immer wieder betont, etwa in Lev., 19, 33 – 34: „Liebe den Fremdling, der unter euch wohnt, wie dich selbst“. Oder im Talmud, im Traktat Gittin 61a: „Man versorge die Armen Israels gemeinsam mit den Armen der Völker, man besuche die Armen Israels gemeinsam mit den Armen der Völker, man begrabe die Armen Israels gemeinsam mit den Armen der Völker, des Friedens wegen“.

Und was Nächstenliebe in seiner einfachsten Form bedeutet, sagen die Sprüche, 25, 21-22: „Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen und wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken“.

Spätestens hier sollte klar sein, dass die Idee des rachsüchtigen Juden, wie ihn die Nazis zur Perfektion getrieben haben, eine christliche Trope ist, die sich auch ausweiten lässt auf die Vorstellung des blutsaugenden und geldgierigen Juden. Und natürlich heute im aktuellen Gaza-Krieg als Ressentiment schnell abrufbar ist, wenn man Israel die Schuld an diesem Krieg und dem Leid der Palästinenser geben will, völlig unabhängig davon, wo die Verantwortung der israelischen Regierung für die palästinensische Zivilbevölkerung tatsächlich liegt und wo Israel möglicherweise versagt oder gar bewusst gegen Prinzipien des Völkerrechts agiert.

Das Problem im medialen Gebrauch einer Formel wie „Auge um Auge“ ist, dass sie auf 2000 Jahre anti-judaistischer Tradition bauen kann, die per Reflex abgerufen wird, sodass, jenseits von purem Nichtwissen, was das Talionsgesetz wirklich bedeutet, ein Bild vom Juden abgerufen wird, dass tief in der kulturellen DNA des christlichen Abendlandes verankert ist. So aber wird Stimmung gemacht. Gegen die Juden, gegen Israel. Oft ohne es zu wissen. Doch das macht es keinesfalls besser.

Das Problem bei vielen dieser Ressentiments, bei denen man das „Alte Testament“ als Beweis heranzieht, ist die christliche Auslegung der Schrift, die natürlich stets die „Krönung“ des Glaubens und der Lehre im Neuen Testament sehen muss. Daran haben auch das Zweite Vatikanische Konzil und andere Versuche etwa in der protestantischen Kirche nichts ändern können. Selbst wenn christliche Schriftgelehrte heute im intellektuellen oder interreligiösen Austausch längst zu neuen, fairen Erkenntnissen gelangt sind, sie erreichen die Breite der Gesellschaft nicht. Und damit bleibt auch der rassische Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts, der seine Kulmination bislang in Auschwitz fand, bis heute ein christliches Phänomen, das – zumindest in seiner eliminatorischen Form der Nazis, die eine „Erlösung der Welt“ durch die Endlösung der Judenfrage anstrebten – von der Muslimbruderschaft übernommen wurde. Der Nazi-Sender Radio Zeesen hatte von 1939 – 1945 die NS-Ideologie auf Farsi und Arabisch in den Nahen Osten gebracht, die Muslimbrüder und ihr Vordenker Sayyid Quttub übernahmen diese europäische Variante des Judenhasses bereitwillig. Die Hamas ist übrigens der palästinensische Ableger der Muslimbrüder. Womit sich ein Kreis schließt vom Antisemitismus Europas zum Antisemitismus in der arabischen Welt.

Bildnachweis: Brett Jordan / unsplash.com

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