
„Zionismus” – Nationale Bewegung und Feindbild
Der historische Zionismus und seine Ambivalenzen
1890 prägte Nathan Birnbaum den Neologismus „Zionismus” als Selbstbezeichnung der seinerzeit in Europa entstehenden jüdischen Nationalbewegung, ihrer Ideologie und politischen Programmatik. Zum Manifest und zur Initialzündung einer breiten zionistischen Bewegung in zahlreichen Ländern wurde das Buch „Der Judenstaat” (1896) des österreichisch-ungarischen Journalisten und Schriftstellers Theodor Herzl. Schon 1897 tagte in Basel der erste Zionistenkongress mit Delegierten aus ganz Europa. Der Zionismus propagierte die Einwanderung der weltweit zerstreuten Juden und Jüdinnen nach Palästina, die Besiedlung des Landes und die Gründung eines eigenen Staates des „jüdischen Volkes“ als sein Ziel und begann dieses sogleich auch praktisch zu verfolgen. „Palästina“ gehörte seinerzeit zum Osmanischen Reich und bezeichnete ein unscharf bestimmtes geographisches Gebiet; nach dem Ersten Weltkrieg war es der Name eines klar umgrenzten Territoriums, das nunmehr unter britischer Mandatsherrschaft stand.
Zentrale Ursachen für die Entstehung des Zionismus waren der in ganz Europa erstarkende Nationalismus und der Antisemitismus. In Westeuropa wuchsen die Zweifel an den Versprechen von Aufklärung, politischem Liberalismus und Emanzipation. Im zaristischen Russland litt die Millionen zählende jüdische Bevölkerung unter bedrückender Armut, rechtlicher Diskriminierung sowie wiederkehrenden Pogromwellen.
Allerdings sah die Mehrheit der Juden und Jüdinnen in Westeuropa weiterhin in der Assimilation ihre Perspektive. In Osteuropa organisierten sich Zehntausende im Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund und hofften auf eine sozialistische Revolution im Zarenreich, die nicht nur der Armut, sondern auch Diskriminierung und Judenhass ein Ende setzen würde. Die eigentliche jüdische Massenbewegung aber war die Auswanderung in die USA: Über zwei Millionen suchten so der „Judennot” in Osteuropa zu entkommen.
Von Anfang an existierten innerhalb der zionistischen Bewegung verschiedene Strömungen: u.a. der sozialistische „Arbeiterzionismus”, der bürgerlich-liberale „allgemeine Zionismus”, der revisionistische sowie der religiöse Zionismus.[1] Zum einen wiesen diese deutliche Unterschiede in ihren Vorstellungen über den genauen Umfang des avisierten Territoriums auf, ebenso zur zukünftigen Ordnung in Staat und Gesellschaft oder der Politik gegenüber der britischen Kolonialmacht und gegenüber der einheimischen arabischen Bevölkerung. Zum anderen aber wurden bestimmte politisch-ideologische Grundpositionen (unterschiedlich nuanciert) breit geteilt:
Die Vertreter des Zionismus glaubten nicht, dass der zunehmend aggressive Antisemitismus durch den Fortschritt oder durch eine sozialistische Gesellschaft einfach verschwinden würde. Daher postulierte er – hierin vielen antikolonialen Befreiungsbewegungen gleich – ebenfalls ein „Volk” mit eigenem „Wesen” und Werten, eigener Sprache, „Identität” und Geschichte, eine gleichberechtigte „Nation” mit Anspruch auf einen eigenen Staat zu sein. Dieser sollte die „unnatürliche” Zerstreuung der Juden und Jüdinnen unter anderen „Völkern” und so auch dem Antisemitismus ein Ende setzen.
Aber anders als sonst bei Nationalbewegungen existierte kein Kernsiedlungsgebiet: Die zionistische Bewegung sah in ‚Palästina‘ – was (mindestens) das gesamte Gebiet westlich des Jordans bezeichnete – die qua Geschichte, Thora und jahrhundertelanger Gefühlsbindung verbürgte legitime historische „Heimat” für „Heimkehr” und „Wiederherstellung des jüdischen Staates”.[2] Zielstrebig wurden Einwanderung, Landkauf, Siedlungsaktivitäten und der Aufbau protostaatlicher Organisationen vorangetrieben, befördert von idealistischen Utopien wie der Schaffung eines „neuen jüdischen Menschen”, neue gemeinschaftliche Lebensformen in den Kibbuzim, eine nationale „Erlösung” und „Wiedergeburt” frei von aller Bedrückung in einem weltoffen-modernen demokratischen oder gar sozialistischen Staat gleichberechtigter Bürger.
Deutlich zeigen sich hier die Momente des ambivalenten Doppelcharakters des Zionismus: Einerseits war er ein reaktiver emanzipatorischer Selbstermächtigungsnationalismus einer in ganz Europa diskriminierten, verfolgten und dann vom deutschen Nationalsozialismus millionenfach ermordeten Minderheit. Gleichzeitig aber handelte es sich um einen Nationalismus, der, ausgehend von der Vorstellung eines per Abstammung, Geschichte, Kultur und Religion bestimmten „Volkes“, in Palästina die Gründung eines Nationalstaats mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit verfolgte. Dies aber bedeutete in der Realität die sukzessive Verdrängung bzw. Marginalisierung der dort lebenden arabischen Bevölkerung und führte zu einem bereits vor dem Ersten Weltkrieg beginnenden und danach anwachsenden, bis heute immer wieder gewaltsam ausgetragenen nationalen Konflikt.
Obwohl selbst ein Befreiungsnationalismus, trug der Zionismus von Beginn an auch kolonialistische Züge. Zwar waren nicht die Steigerung der wirtschaftlichen und politischen Macht eines Mutterlandes oder die brutale Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung sein Ziel. Wohl aber wanderten Menschen aus Europa in das seit Ende 1917 unter britischer Kolonialherrschaft stehende Palästina ein, um dort einen eigenen Staat aufzubauen. Dem vom zeitgenössischen Eurozentrismus, Orientalismus und Kolonialismus geprägten Blick der Einwandernden galt der arabische Raum als gesellschaftlich, ökonomisch, technisch wie kulturell „zurückgeblieben”, die dort wohnende Bevölkerung und der wohl kaum zu vermeidende Konflikt mit dieser spielten im Denken der meisten Zionisten der Anfangszeit eine eher marginale Rolle.
Nach 1945 wurden diese ambivalenten, widersprüchlichen Seiten des Zionismus noch deutlicher akzentuiert. Zum einen entstand Israel gerade auch als Staat derjenigen Gruppe, deren Angehörige millionenfach ermordet worden waren, und dessen jüdische Bevölkerung 1949 zu fast einem Drittel aus Holocaustüberlebenden bestand, als der Staat, der sich als sichere Heimstätte und Zufluchtsort von Juden versteht und von vielen Jüdinnen und Juden bis heute so gesehen wird. Ebenso wenig wie der Zionismus ohne den europäischen Antisemitismus verstanden werden kann, ebenso wenig ist Israel von der Erfahrung der Shoah zu trennen.
Zum anderen traten aber auch die nationalistischen Momente des Zionismus deutlich hervor. Als die Vollversammlung der UNO im November 1947 gegen den Willen der arabischen und palästinensischen Vertreter die Teilung Palästinas beschloss, begannen dort sogleich bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen; nach der Proklamation des jüdischen Staats am 14. Mai 1948 erklärten sechs arabische Staaten Israel den Krieg. Im Zuge all dieser Kämpfe kam es zur Flucht, aber auch zur teilweise gezielt betriebenen Vertreibung und der nachfolgenden Enteignung von über 700.000 Palästinenser:innen. Der jüdische Befreiungs- und Überlebensnationalismus resultierte im Zuge der Durchsetzung der Staatsgründung in einem „Verdrängungskolonialismus”.[3]
Zionismus nach der Staatsgründung
Mit der Gründung Israels hatte der Zionismus sein Hauptziel erreicht, die Berufung auf ihn ist Staatsdoktrin. Allerdings verblassten im Zuge der Etablierung von Staatlichkeit und den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der folgenden Jahrzehnte viele der mit dem Zionismus verbundenen idealistischen Hoffnungen. Die sozialistischen Utopien schwanden, die gemeinschaftlich produzierenden und organisierten Kibbuzim transformieren sich seit Ende der 1970er Jahre zunehmend in marktwirtschaftliche Unternehmen bzw. relativ ‚normale‘ Dörfer. Israel kennzeichnet heute gerade keine homogene „jüdische Nation” oder „jüdische Identität”, sondern eine hybride, multikulturelle, multireligiöse und global vernetzte (Einwanderungs-) Gesellschaft mit beträchtlichen inneren Widersprüchen und Gegensätzen.
So vertreten „postzionistische” Intellektuelle ab den späten 1980er Jahren, dass der Zionismus mit der Staatsgründung sein wichtigstes Ziel erreicht habe und damit zu guten Teilen obsolet geworden sei und diskutieren, ob Israel zugleich ein jüdischer und demokratischer Staat sein könne. Die „neuen Historiker” (z. B. Tom Segev, Avi Shlaim, Shlomo Sand, Ilan Pappé u. a.) hinterfragen zentrale politische Ausrichtungen und Geschichtsmythen in Israel: Verbrechen der zionistischen bzw. israelischen Militärverbände, die Vertreibung und Enteignung der palästinensischen Bevölkerung werden thematisiert. Selbst zionistische Grundvorstellungen wie die Existenz eines quasi-natürlichen „jüdischen Volkes” oder eines „historischen Anspruchs“ auf das Land Israel werden versucht zu dekonstruieren.
Allerdings gingen der dauerhafte, zumindest latente Kriegszustand sowie die jahrzehntelange Besatzungsherrschaft und Siedlungspolitik einher mit einer erstarkenden und sich radikalisierenden nationalreligiösen Rechten, die offen Annexionen, antiarabischen Rassismus und einen „Transfer” der palästinensischen Bevölkerung propagiert und behauptet, damit das zionistische Ziel endlich zu verwirklichen. Diese innerisraelische Rechtsentwicklung hat dazu geführt, dass innerhalb der jüdischen Diaspora, die nach 1945 angesichts der Shoah jahrzehntelang nahezu geschlossen klar hinter dem jüdischen Staat gestanden hatte, immer mehr, gerade jüngere Jüdinnen und Juden zunehmend auf kritische Distanz zu Israel gehen.
Zweifelsohne war der Zionismus als Ideologie und Bewegung für die Entstehung Israels verantwortlich und ist bis heute folgenreich für dessen Politik und Gesellschaft. Doch gleichwohl geht es fehl, heute in dem vor rund 130 Jahren formulierten Zionismus die alles bestimmende Kraft zu suchen und hieraus die gesamte gegenwärtige Politik Israels „herleiten” zu wollen. Solch ahistorischen und dekontextualisierten Vorstellungen, die in der Regel gepaart sind mit dem Ausblenden der Ambivalenzen des Zionismus und der Dethematisierung von Antisemitismus und Holocaust, aber auch der Politik und Gewalt der arabischen und palästinensischen Seite, sind meist ein Anzeichen dafür, dass hier „der Zionismus” als ein identitätsstabilisierendes Feindbild dient.
Zionismus als Feindbild
Der Terminus „Zionismus” dient bis heute in sehr unterschiedlichen politischen Bewegungen, die aber allesamt dichotome Gut-Böse-Ideologien aufweisen, als Feind- und Gegenbild zur Konstruktion und Stabilisierung eines kollektiven – politischen, religiösen bzw. nationalen – Selbstbildes. „Zionismus” sowie die personalisierte Form „Zionist” fungieren dann als Gegenbild zur „Wir-Identität“, als Symbol für das radikal Böse,[4] das je nach Selbst- und Weltbild zwar unterschiedlich gezeichnet sein kann, gleichwohl aber (mehr oder weniger deutlich) antisemitisch grundiert ist.
Für ideologisch konsequente „klassische” Antisemiten wie etwa Eugen Dühring stand schon 1901 fest, dass eine „Zionsgründung” nur eine „neuerliche Steigerung der Judenmacht” bedeuten würde. Der NS-Ideologe Alfred Rosenberg postulierte 1922 in seinem Buch „Der staatsfeindliche Zionismus”, die Juden wollten in Palästina nur ein „neues Aufmarschgebiet für Weltbewucherung schaffen”. Nach der Staatsgründung wurden „Zionismus” und „Israel” für den Rechtsextremismus zunehmend zum Ersatz- und Codewort, mittels dessen die altbekannten antisemitischen Verschwörungsphantasien bis heute weiter verbreitet werden. So plakatierte die neonazistische Partei „Die Rechte” 2019: „Zionismus stoppen. Israel ist unser Unglück!”.
Auch im arabischen Raum wurde der „Zionismus” früh zum Feindbild, hier lagen die Ursachen allerdings erst einmal in dem klar realpolitischen Konflikt mit der zionistischen Bewegung. Allerdings vermengte sich dort der Antizionismus ab Ende der 1920er Jahre unentwirrbar mit dem von den Kolonialmächten exportierten Antisemitismus. Arabische Staaten konnten und können auf den antisemitischen Antizionismus zurückgreifen, um ihre Bevölkerungen hinter diktatorischen nationalistischen Regimes zu vereinen. Bei antimodern-fundamentalistischen Gruppen nimmt das antisemitische Feindbild eine zentrale Stelle im Weltbild ein. So postulierte die Hamas 1988 in ihrer Gründungscharta nicht nur die Eliminierung des jüdischen Staats, sondern verkündete, dass die antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion” wahr seien und der immens reiche „Weltzionismus” hinter beiden Weltkriegen und allen Revolutionen stünde, die Weltmedien kontrolliere sowie mittels der UNO, der Freimaurer sowie der Rotary- und Lions-Clubs die Welt beherrschen wolle.
Zum ersten Mal zum Hauptbegriff wie zur Tarnformel eines ansonsten lupenreinen Antisemitismus wurde „Zionismus“ in der spätstalinistischen Sowjetunion. Das erst wenige Jahre zuvor gegründete Israel wurde bezichtigt, Teil einer gefährlichen internationalen „imperialistisch-zionistischen“ Verschwörung gegen die Sowjetunion zu sein. Gleichzeitig wurden die in den realsozialistischen Staaten lebenden Jüdinnen und Juden verdächtigt, als „zionistische Agenten“ im Dienste des „Weltimperialismus“ Sabotage und Zersetzung zu betreiben – bis hin zum offen antisemitischen tschechischen Slánský-Schauprozess im November 1952, der mit zehn sogleich vollstreckten Todesurteilen gegen die jüdischen Angeklagten endete.
Nach dem Sieg Israels im Sechstagekrieg 1967 hob sowohl seitens der Ostblockstaaten als auch erheblicher Teile der radikalen westlichen Linken ein vehementer antiimperialistisch begründeter „Antizionismus“ an, der immer wieder deutliche antisemitische Ausformulierungen aufwies. Die Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus durchzieht seitdem den linken Antizionismus wie auch das Nebeneinander von universalistischen, völker- sowie menschenrechtlichen Argumentationen und anti-imperialistischen, befreiungsnationalistischen sowie antisemitischen Ideologemen. In den letzten Jahren stehen im linken Antizionismus zwar antirassistische und antikoloniale Argumentationen stärker im Vordergrund, doch fungiert „der Zionismus“ weiterhin häufig als Feindbild, dem gegenüber das eigene Selbstbild konturiert wird. Galt Israel dem Antiimperialismus als „Speerspitze des US-Imperialismus gegen die arabischen Völker“, so sehen heute viele in dem „zionistischen Gebilde” nichts als die pure Verkörperung von weißem Rassismus und westlichem Kolonialismus. International hat sich am weit verbreiteten „israelkritischen“ Konsens innerhalb der Linken und einer Gemengelage von nicht-antisemitischer Kritik an Israel und antisemitischem Antizionismus wenig geändert. Und weiterhin fungieren „Zionismus“ und „Zionisten“ allzu oft als Feindbild und Symbol für das ultimativ Böse, gegenüber dem sich linke, antiimperialistische, postkoloniale und islamistische Gruppierungen verschiedenster Ausrichtung zusammenfinden.
Weiterführende Literatur:
Omri Boehm, Israel – eine Utopie, Berlin 2020.
Michael Brenner, Geschichte des Zionismus, München 2008.
Ders., Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates, Berlin 2016.
Theodor Herzl, Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Text und Materialien, Berlin/Wien 2004.
Klaus Holz/Thomas Haury, Antisemitismus gegen Israel, Hamburg 2021.
Moshe Zimmermann, Niemals Frieden? Israel am Scheideweg, Berlin 2024.
[1] Der Kulturzionismus war weniger stark auf eine Staatsgründung fixiert und konnte daher die in Palästina wohnende Bevölkerung eher in den Blick nehmen und auch binationale Vorstellungen entwickeln. Doch diese Strömung war nur in Deutschland stark und spielte, wie auch der kleine Brith Schalom (Friedensbund) in Palästina, ab den 1930er Jahren nur noch eine marginale Rolle (vgl. Stefan Vogt, Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland 1890-1933, Göttingen 2016 Micha Brumlik, Kritik des Zionismus, Hamburg, 2007, S. 35 ff.).
[2] Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel vom 14.5.1948.
[3] Micha Brumlik/Gert Krell, Der neue Antisemitismusstreit. Wie der Zionismus zum Überlebens- und Verdrängungskolonialismus wurde, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 5/2022, S. 103-111, hier: S. 103.
[4] Eva Illouz, Euer Hass auf Juden, Süddeutsche Zeitung, 18.5.2024, S. 15.
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