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Erfahrung der Betroffenen

Jüdische Perspektiven

Obwohl Antisemitismus in Deutschland weitverbreitet ist, wird er von der Mehrheitsgesellschaft selten als Problem wahrgenommen. Für jüdische Menschen stellt sich die Lage anders dar. Von subtilen Andeutungen bis zu offener Gewalt erfahren sie Antisemitismus sehr konkret und wünschen sich eine größere Sensibilität für das Thema. VON RUTH FISCHER

Obwohl Antisemitismus in Deutschland weitverbreitet ist, wird er von der Mehrheitsgesellschaft selten als Problem wahrgenommen. Für jüdische Menschen stellt sich die Lage anders dar. Von subtilen Andeutungen bis zu offener Gewalt erfahren sie Antisemitismus sehr konkret und wünschen sich eine größere Sensibilität für das Thema.

Zahlreiche empirische Untersuchungen offenbaren, dass etwa 15 bis 20 Prozent der Deutschen eindeutige antisemitische Einstellungen vertreten. Bezogen auf Erfahrungswerte von Betroffenen stellt sich das Ausmaß antisemitischer Tendenzen jedoch wesentlich größer dar.

Der alltägliche Antisemitismus schlägt sich auch in der polizeilichen Kriminalstatistik nieder, die für das Jahr 2018 1799 antisemitische Straftaten verzeichnet. Dies entspricht durchschnittlich fast fünf Straftaten pro Tag.1 Trotz dieser Befunde wird Antisemitismus in Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft kaum als ein erhebliches Problem wahrgenommen. In einer repräsentativen Studie der Bertelsmann Stiftung von 2015 vertraten 77 Prozent der Befragten die Meinung, in Deutschland sei nur „eine geringe Zahl“ oder „kaum jemand“ gegen Jüdinnen und Juden eingestellt.2

Antisemitismuserfahrungen und subtile Formen von Antisemitismus

Umfragen unter in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden hingegen zeigen, dass die tatsächlich oder potenziell Betroffenen hier zu einer deutlich anderen Einschätzung kommen. Die aktuellsten Zahlen für Deutschland sind der Erhebung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte zu entnehmen, in der Jüdinnen und Juden aus 13 europäischen Ländern zu ihren Erfahrungen mit Antisemitismus befragt wurden.3 85 Prozent der jüdischen Befragten in Deutschland gaben an, Antisemitismus für ein großes oder sogar sehr großes Problem zu halten. Als erhebliche Problemfelder bewerteten sie insbesondere Antisemitismus im Internet und in sozialen Medien (89 Prozent), Feindseligkeit gegenüber Jüdinnen und Juden auf der Straße oder im öffentlichen Raum (80 Prozent) sowie Antisemitismus in der Politik (61 Prozent).4

Der unterschiedlichen Beurteilung von Ausmaß und Relevanz des Phänomens Antisemitismus liegen verschiedene Faktoren zugrunde, die sich nicht zuletzt aus der Erfahrungswelt und dem Bewusstsein einer betroffenen Minderheit speisen. Viele Jüdinnen und Juden erleben Antisemitismus in ihrem Alltag oder sind dafür zumindest sensibilisiert, auch wenn die konkreten persönlichen Erfahrungen sehr unterschiedlich ausfallen können. Häufiger als in offenen Anfeindungen äußert sich Antisemitismus subtil, etwa in Form sprachlicher Chiffren und Codes, vermeintlich harmloser Sprüche, zweideutiger Anspielungen oder unterschwelliger Zuschreibungen. Wo jüdische Menschen von vielen nach wie vor als irgendwie ‚fremd‘‚ ,andersartig‘ oder ‚eigen‘ markiert werden, wird ihnen implizit die Zugehörigkeit zur deutschen Mehrheitsgesellschaft abgesprochen. Hiervon zeugt bereits die sprachliche Unterscheidung zwischen ‚den Deutschen‘ und ‚den Juden‘. Dasselbe gilt für die Tatsache, dass die kollektive Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und an den Holocaust in Bezug auf die jüdischen Opfer oft zwischen ehrlicher Empathie, distanziertem Bemühen und offener, häufig relativierender Konkurrenz („auch die Deutschen waren Opfer“) pendelt. Weit verbreitet ist überdies die Unterstellung, die Loyalität jüdischer Menschen gelte mehr dem Staat Israel als dem Land, in dem sie leben.

Antisemitismus, Rassismus und Gewalt

Qualitative Erhebungen unter Jüdinnen und Juden in Deutschland zeugen von einer starken Verbreitung solcher subtilen Formen des Antisemitismus. Für die Selbstwahrnehmung und das Bewusstsein derjenigen, gegen die sich diese Fremdheitskonstruktionen richten, bleibt das nicht folgenlos. Hinzu kommt, dass antisemitische Vorbehalte häufig auch mit rassistischen Haltungen einhergehen. Die jüdischen Gemeinden in Deutschland sind vielfältig und haben zahlreiche Mitglieder mit Migrationshintergrund, etwa aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion oder aus Israel, die auch rassistische Ausgrenzung und Diskriminierung erfahren. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass unter jüdischen Befragten 76 Prozent Rassismus als ein fast ebenso großes Problem in Deutschland sehen wie Antisemitismus.5  

Bedrohlicher als in seinen subtilen Ausprägungen wirkt der Antisemitismus dort, wo er sich ganz offen oder sogar gewalttätig manifestiert, etwa in Form von Beleidigungen, Anfeindungen und Angriffen gegenüber jüdischen Personen oder Einrichtungen. In Umfragen gaben bis zu 61 Prozent der befragten Jüdinnen und Juden an, dass sie selbst oder Angehörige und Freunde innerhalb der letzten zwölf Monate antisemitische Andeutungen, Beleidigungen oder Belästigungen erlebt hätten.6 Ähnlich viele zeigten sich besorgt, sie oder ihnen nahestehende Personen könnten in nächster Zeit Opfer derartiger Vorfälle werden. 47 bis 54 Prozent befürchteten sogar körperliche Übergriffe.7 Darüber hinaus berichteten viele, dass sie ihren Alltag an Sicherheitsaspekten ausrichten: in Form eines Verschweigens der religiösen Zugehörigkeit, des absichtlichen Verbergens jüdischer Symbole oder des Meidens bestimmter Orte. Aufgrund des grassierenden Antisemitismus erwägen 44 Prozent der befragten Jüdinnen und Juden sogar eine Auswanderung.8

Unterschiedliche Wahrnehmung und fehlendes Vertrauen

Die jüdischen Erfahrungen und Perspektiven veranschaulichen nicht nur eine Diskrepanz in der Wahrnehmung und Beurteilung von Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Problem. Sie weisen auch darauf hin, dass bloße Zahlen immer nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden können. Wie sich der Antisemitismus auf den Alltag der davon Betroffenen auswirkt und was er für sie konkret bedeutet, bleibt größtenteils unsichtbar.

Gleichzeitig deuten die einschlägigen Studien auf die Dunkelziffer bei der statistischen Erfassung antisemitischer Vorkommnisse hin. Obwohl ein Großteil der Studienteilnehmenden persönliche Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht hat und diese als äußerst belastend empfand, meldeten nur wenige von ihnen die Vorfälle bei der Polizei oder einer anderen Beschwerdestelle. Viele entschieden sich dafür, das Erlebte in ihrem persönlichen Umfeld aufzuarbeiten. Als Gründe dafür nannten sie unter anderem das Gefühl, dass eine Meldung ohnehin nichts geändert hätte, sowie fehlendes Vertrauen in die staatlichen Sicherheitsbehörden oder die Scheu vor dem bürokratischen Aufwand. Ein weiterer Hinderungsgrund ist die Furcht vor einer entwürdigenden Viktimisierung, in der die eigene Gewalterfahrung als ‚übersensibel‘ oder ‚störend‘ abgetan und zurückgewiesen wird.

Strategien für Empowerment und mehr Sensibilität

Um einer Marginalisierung der Opfer entgegenzuwirken und die Anzahl antisemitischer Gewalttaten besser erfassen zu können, entwickeln einige jüdische und zivilgesellschaftliche Institutionen seit einigen Jahren eigene Empowerment- und Monitoring-Strategien. So hat etwa das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der ZWST eine eigene Interventions- und Beratungsstelle „OFEK“ für Opfer antisemitischer Gewalt eingerichtet, während verschiedene Registerstellen, wie die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Berlin sich darum bemühen, antisemitische Vorfälle - auch unter der Strafbarkeitsgrenze - weitreichend zu dokumentieren. Beiden Einrichtungen ist es ein wichtiges Anliegen, das Bewusstsein der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft für den aktuellen Antisemitismus zu erhöhen und dessen Verbreitung entgegenzuwirken. Das Kompetenzzentrum der ZWST arbeitet beispielsweise seit vielen Jahren auch im Präventionsbereich und berät unter anderem Bildungseinrichtungen im Umgang mit antisemitischen Vorfällen.

Zur Beantwortung der Frage nach der Verbreitung von Antisemitismus in Deutschland sind Perspektiven von Jüdinnen und Juden unverzichtbar.9 Sie stellen eine wichtige Ergänzung zu empirischer Einstellungsforschung und Kriminalstatistiken dar und helfen mehr Sensibilität für das Thema in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu schaffen. Viele Jüdinnen und Juden äußern darüber hinaus den Wunsch nach bildungspolitischen Maßnahmen, etwa nach mehr Bildungsangeboten zum Thema Antisemitismus für die nichtjüdische Bevölkerung und in der Schule sowie eine verstärkte Auseinandersetzung mit aktuellen Formen der Judenfeindschaft.

 

Ruth Fischer ist Mitbegründerin und war bis 2019 Redakteurin von „Anders Denken – Die Onlineplattform für Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit“

Anmerkungen

1 Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Hg.), Übersicht „Hasskriminalität“:  Entwicklung der Fallzahlen 2001-2018, 14. Mai 2019, o. S. PDF

2 Steffen Hagemann/Roby Nathanson: Deutschland und Israel heute. Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart? Gütersloh 2015, S. 38. PDF

3 European Union Agency for Fundamental Rights (FRA): Diskriminierung und Hasskriminalität gegenüber Juden in den EU-Mitgliedstaaten.  Experiences and perceptions of antisemitism. Second survey on discrimination and hate crime against Jews in the EU. Wien 2018. PDF

4 Ebd. S. 22, table 2.

5 Ebd. S. 16, table 1.

6 Vgl. Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus: Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen. Hg. vom Bundesministerium des Innern. Berlin 2017, S. 91-115, hier S. 109f. PDF

7 European Union Agency for Fundamental Rights (wie Anm. 3), S. 35, figure 10. Online 

8 Ebd. S. 39, figure 13.

9 Vgl. Marina Chernivsky/Romina Wiegemann: Antisemitismus als individuelle Erfahrung und soziales Phänomen – Zwischen Bildung, Beratung und Empowerment. In: Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 11 (2017), 21, S. 1-8. PDF

 

Zum Weiterlesen

„Erfahrungsräume und Perspektiven der jüdischen Bevölkerung im Umgang mit Antisemitismus“. In: Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus: Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen. Hg. vom Bundesministerium des Innern. Berlin 2017, S. 91-115. PDF

European Union Agency for Fundamental Rights (FRA): Diskriminierung und Hasskriminalität gegenüber Juden in den EU-Mitgliedstaaten. Erfahrungen und Wahrnehmungen im Zusammenhang mit Antisemitismus. Wien 2013. PDF

Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS)
www.report-antisemitism.de

Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (Hg.): Vom Sprechen und Schweigen über Antisemitismus. Berlin 2017. PDF

Andreas Zick/Andreas Hövermann/Silke Jensen/Julia Bernstein: Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland. Ein Studienbericht für den Expertenrat Antisemitismus. Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Bielefeld 2017. PDF

 

 

Bildnachweis: prill / photocase.de

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