Umgang mit Antisemitismus in der Grundschule – ein Handreichung für Lehrer*innen und pädagogische Fachkräfte
Die Zahl der antisemitischen Angriffe der letzten Jahre wie auch die Ergebnisse der Einstellungsforschung haben deutlich gemacht, dass antisemitische Vorurteile, Diskriminierungen und Wissensbestände in der Gesellschaft weit verbreitet sind. Diese antisemitischen Bilder wirken auch auf Kinder, sowohl über die Eltern und Erziehungsberechtigten als auch über Schule und Medien. Insbesondere dem Raum Schule kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, worauf die aktuelle Forschung hinweist: „Antisemitismus ist Normalität an deutschen Schulen. Seine Ausdrucksformen bilden eine Stufenfolge ab, die von einer Verwunderung über jüdische Identitäten an Schulen über die Verbreitung antisemitischer Stereotype und den ‚normalisierten‛ Schimpfwortgebrauch ‚Du Jude‛ […] reicht‟.[1] Auch Grundschulen sind nicht frei von diskriminierenden und antisemitischen Äußerungen. Kinder kommen immer wieder – meist nebenbei und ungewollt – in Kontakt mit antisemitischen Aussagen und Bildern. Wenn diese Aussagen nicht besprochen und infrage gestellt werden, können sich daraus antisemitische Vorurteile entwickeln.
Obwohl Antisemitismus an Grundschulen auftritt und es eine Notwendigkeit gibt, diesen zu bearbeiten, wird das Thema selten behandelt. Es scheint für die Altersgruppe zu komplex, zu vielschichtig oder nicht altersgerecht zu sein. Doch wenn antisemitische Äußerungen auftreten, müssen diese bearbeitet und ihnen aktiv widersprochen werden. An diese Zurückhaltung und gleichzeitige Notwendigkeit, antisemitische Äußerungen und Handlungen auch mit Schüler*innen der Grundschule zu bearbeiten, knüpft die Handreichung Umgang mit Antisemitismus in der Grundschule an. Sie beinhaltet eine Sammlung von Hintergrundinformationen und zielgruppenspezifischen Methoden im Bereich des historischen Lernens zur Geschichte des Nationalsozialismus und der antisemitismuskritischen und diversitätssensiblen Bildungsarbeit. Die Handreichung beinhaltet Ansatzpunkte und Methoden für eine Bearbeitung der folgenden Themenfelder
- Alltag von Jüdinnen und Juden heute in Berlin
- Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorfällen und Diskriminierung
- Thematisierung des Holocaust
Diese unterschiedlichen Themenfelder ermöglichen spezifische Zugänge zum Themenkomplex Antisemitismus. Sie beinhalten unter anderem Methoden zum Thema Identität und Vielfalt für Kinder im Grundschulalter wie auch zur Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust, ohne Kinder emotional zu überwältigen. Die Methoden können zu konkreten Fragen einzeln eingesetzt, aber auch kombiniert werden und in unterschiedlichen Unterrichtsfächer zum Einsatz kommen.
Die Handreichung wurde vom Anne Frank Zentrum in Kooperation mit der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie entwickelt. Sie beinhaltet Tipps und Hinweise, die sich speziell an Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen aus Berlin und dem Umland richten. Die Methoden sind jedoch auch bundesweit anwendbar. Die Handreichung kann hier heruntergeladen werden: https://www.annefrank.de/themenfelder/antisemitismus-entgegenwirken/handreichung-zum-umgang-mit-antisemitismus-in-grundschulen/
Grundsätze für die präventive Bearbeitung von Antisemitismus in der Grundschule
Wie kann das komplexe Thema Antisemitismus mit Schüler*innen der Grundschule bearbeitet werden, ohne diese zu überfordern und antisemitische Stereotype zu vermitteln? Für die pädagogische Bearbeitung braucht es mit Blick auf die inhaltliche Komplexität, die Reflexion der eigenen Haltung und möglicher eigener (biografischer oder familiärer) Bezugspunkte zum Thema Antisemitismus eine große Sensibilität der Lehrer*innen wie auch einen Blick für die spezifischen Bedarfe der Zielgruppe. Die Bildungsarbeit zum Themenfeld Antisemitismus setzt dabei im Bereich der Prävention an. Neben der Vermittlung von grundlegenden Werten der Gleichberechtigung und der Akzeptanz von Vielfalt ist ein bedeutendes Ziel die Förderung eines diskriminierungssensiblen Klimas in der Schule. An dieser Stelle möchten wir einige Grundsätze der historisch-politischen Bildungsarbeit zum Themenfeld Antisemitismus benennen:
Selbstreflexion von Lehrer*innen und pädagogischen Fachkräften
Für die pädagogische Bearbeitung des Themenfelds Antisemitismus ist neben der inhaltlichen Weiterbildung auch die Selbstreflexion der vermittelnden pädagogischen Fachkräfte zentral. Die Beschäftigung mit Antisemitismus in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen weist häufig biographische Bezüge auf und ist deshalb bei Lehrer*innen wie Schüler*innen emotional aufgeladen. Pädagog*innen sollten ihre eigenen Emotionen und Affekte wahr- und ernstnehmen.
Parteilichkeit mit den Betroffenen von Diskriminierung
In der Grundschule tritt Antisemitismus meist in Form von Vorurteilen und Diskriminierung
auf. Antidiskriminierungsarbeit ist immer parteiisch mit den Betroffenen von Diskriminierung. Bei antisemitischen Vorfällen, die sich direkt oder indirekt gegen jüdische Schüler*innen richten, steht der Schutz der Betroffenen an erster Stelle. Die Grundschule muss den Anspruch erfüllen, ein Raum zu sein, an dem sich auch jüdische Schüler*innen als potenziell Betroffenen von Diskriminierung sicher fühlen können.
Bewusstsein über die häufige Unsichtbarkeit von jüdischen Schüler*innen im Klassenraum
Jüdische Kinder bleiben oft unsichtbar bzw. möchten sich nicht als jüdisch zu erkennen geben. In der pädagogischen Arbeit zum Thema Antisemitismus und dem Lernen zum Thema jüdisches Leben ist es wichtig, die mögliche Anwesenheit von jüdischen Kindern im Klassenraum zu berücksichtigen. Dies bedeutet aber nicht, sie als Expert*innen oder als Vertreter*innen einer Gruppe zu adressieren. Im Sinne einer diversitätssensiblen Pädagogik sollten unterschiedliche Zugehörigkeiten und Identitäten von Kindern einer Gruppe bedacht werden.
Biografisches Lernen als erster Zugang zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust
Die Arbeit mit den historischen Biographien von Kindern, die zur Zeit des Nationalsozialismus gelebt haben und verfolgt wurden, ermöglicht einen altersgerechten Zugang zur Geschichte. Eine solche Biographie sollte das Leben und den Alltag des Kindes und seines sozialen Umfelds in seinen Facetten in den Blick nehmen. Darüber können Anknüpfungspunkte, aber auch Unterschiede zur Lebenswelt von Schüler*innen heute hergestellt und aufgezeigt werden. Anhand der Biografie können Erfahrungen von antisemitischer Diskriminierung und Verfolgung, aber auch Strategien der Selbstbehauptung sichtbar werden.
Juden*Jüdinnen nicht allein als Opfer darstellen
Kinder kommen oftmals in der Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus zum ersten Mal mit dem Thema Judentum in Berührung. Eine Reduzierung von Juden*Jüdinnen als Opfer wird durch eine entsprechende mediale Berichterstattung weiter verfestigt. Die Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust wie auch die Vermittlung jüdischen Lebens in der Gegenwart sollten im Gegensatz dazu multiperspektivisch sein und das Ziel verfolgen, jüdisches Leben in seiner Vielfalt darzustellen. Schüler*innen sollten das Judentum als aktuell, vielschichtig und alltäglich kennenlernen, die Auseinandersetzung mit der Geschichte sollte zudem Aspekte der Selbstbehauptung und des Widerstands thematisieren.
Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Hg.):
Umgang mit Antisemitismus in der Grundschule.
Alltag von Jüdinnen und Juden in Berlin, Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorurteilen, Thematisierung des Holocaust.
Berlin: 2020
[1] Bernstein, Julia (2018): »Mach mal keine Judenaktion!» Herausforderungen und Lösungsansätze in der professionellen Bildungs- und Sozialarbeit gegen Antisemitismus, S. 237
Bildnachweis: Fujifilm X-E1/pixabay