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Schuld oder Verantwortung

Ein Schlussstrich unter die Vergangenheit?

Die gemeinsame Reflexion über die Frage nach historischer Schuld und Verantwortung führt die Teilnehmenden zum vereinten Nachdenken über mögliche Argumente gegen einen Schlussstrich. Die Methode eignet sich für Lerngruppen mit ersten Vorkenntnissen, die sich der historischen Dimension der NS-Verbrechen bewusst sind.

Allgemeine Informationen

Konzeptioneller Zugang

Die Konfrontation mit den Verbrechen des Nationalsozialismus bereitet in der Regel kein Vergnügen. Sie kann seelisch erschüttern, Gefühle persönlicher Scham und kollektiver Schuld evozieren, unbequeme Fragen nach eigenem Verhalten aufwerfen. Strategien der Vermeidung oder Abwehr können mit einer Täter-Opfer-Umkehr einhergehen und so antisemitisch gewendet werden. Dies zu erkennen und zu begreifen kann zu einem besseren Verständnis und bewussterem Umgang mit der eigenen Gefühlswelt beitragen, um Abwehraggressionen entgegenzuwirken.

Lernziele

Die TN sind in der Lage, zwischen persönlicher Schuld und gesellschaftlicher Verantwortung für die NS-Verbrechen zu differenzieren. Sie haben ein entwickeltes Problembewusstsein gegenüber der Forderung nach einem Schlussstrich und kennen Argumente dagegen. Sie wissen, dass Erinnerungsabwehr und -verweigerung eine Aggression gegen die Opfer selbst darstellen kann.

MATERIAL

Material-Download, Flipchartpapier, Filzmarker, Schreibstifte, Beamer/Smartboard, Lautsprecher, Internetverbindung

Zeit

90 Min (25 Min/65 Min)

 

Schritt 1: Stumme Diskussion

Übung (10 Min)

Zwei vorbereitete Plakate werden an unterschiedlichen Stellen im Raum aufgehängt oder auf freistehenden Tischen ausgelegt.

Je ein Plakat enthält eine der folgenden Fragen:

 

  • „Was bedeutet Schuld?“
  • „Was bedeutet Verantwortung?“

 

Die Plakate sollen gut zugänglich sein und einen schreibfesten Untergrund haben. An beiden Stationen sind mehrere Filzmarker zum Schreiben platziert.

Die einzelnen TN besuchen jetzt – sich frei im Raum bewegend – nacheinander beide Plakat-Stationen und versuchen, die dort formulierten Fragen zu beantworten. Ihre Antworten und Kommentare schreiben sie direkt auf das jeweilige Plakat, ohne dabei zu sprechen.

Sie können auch schreibend aufeinander Bezug nehmen, indem sie die verschiedenen Beiträge gegenseitig ergänzen und kommentieren. Die TN können selbstständig entscheiden, in welcher Reihenfolge und wie oft sie die Stationen aufsuchen.

 

Auswertung (15 Min)

Alle TN kommen wieder zusammen und sehen sich die Plakate noch einmal gemeinsam an. Die Teamenden stellen die beschriebenen Plakate nacheinander vor und stellen klärende Nachfragen, wenn gewisse Kommentare nicht eindeutig sind.

Im Gespräch mit den TN verdeutlichen die Teamenden, dass „Schuld“ aus einem konkreten persönlichen Fehlverhalten resultiert, also aus einem Verstoß gegen ethisch-moralische oder gesetzliche Normen. „Verantwortung“ hingegen verweist auf eine allgemeinere Verpflichtung oder ein Pflichtgefühl gegenüber anderen Personen oder Personengruppen – und kann als gesellschaftlich normiertes oder selbst gewähltes Ideal das eigene Handeln bestimmen.

Die Teamenden erklären, dass beide Begriffe auch in der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen von zentraler Bedeutung sind. Zugleich arbeiten sie heraus, dass Fragen nach Schuld und Verantwortung sowohl das Individuum als auch ein gesellschaftliches Kollektiv (z.B. Deutschland oder die Menschheit im Allgemeinen) betreffen können.

 

In einer moderierten Abschlussdiskussion erörtern die TN schließlich, ob die Schuldfrage für ihre eigene Generation und ihre persönliche Sicht auf die NS-Vergangenheit (noch) relevant ist. Gemeinsam überlegen sie, was es bedeuten kann, für ein begangenes Unrecht historische Verantwortung zu übernehmen.

Mögliche Antworten können sein: die Anerkennung und Entschädigung der Opfer und ihrer Nachkommen, öffentliches Erinnern und Gedenken, die Verteidigung von Schwächeren und der Schutz diskriminierter Minderheiten, das Einmischen bei Ungerechtigkeit oder Mobbing, Engagement gegen Nazis etc.

 

Fragen

  • Ist die Frage nach der Schuld an den NS-Verbrechen für uns persönlich heute überhaupt noch wichtig?
  • Was ist darunter zu verstehen, wenn von einer gemeinsamen „historischen Verantwortung“ gesprochen wird?
  • Fallen euch Beispiele dafür ein, was man selbst konkret tun kann, wenn man eine historische Verantwortung anerkennt?

 

Hinweis: Die Methode „Ein Schlussstrich unter die Vergangenheit?“ eignet sich für Zielgruppen, die bereits über Vorkenntnisse zu Nationalsozialismus und Holocaust verfügen und sich der historischen Dimensionen der NS-Verbrechen einigermaßen bewusst sind.

Für die Stumme Diskussion kann es hilfreich sein, den einführenden Arbeitsauftrag mit konkreten Beispielen zu erläutern, um eine zielführende Bearbeitung der Fragen zu gewährleisten. Beachten Sie dabei, dass die Fragen mit Absicht allgemein formuliert sind, also vorerst (noch) ohne Bezug zum Umgang mit der NS-Vergangenheit bleiben. Greifen Sie während der stummen Diskussionsphase nur dann unterstützend ein, wenn bei der Beantwortung der Fragen grundsätzliche Missverständnisse zutage treten.

Für die Abschlussdiskussion um die Fragen nach historischer Schuld und Verantwortung sowie auch bei der Thematisierung der Schlussstrichforderung gilt: Vermeiden Sie den Eindruck, es gehe hier um eine ‚richtige‘ oder ‚falsche‘ Haltung zum Thema, aber lassen Sie eindeutig problematische Äußerungen nicht unwidersprochen stehen. Verdeutlichen Sie die ethisch-moralische Tragweite der Fragestellung, aber halten Sie sich mit dezidiert moralisierenden Wertungen zurück.

 

Schritt 2: Video-Kommentar und Gruppenarbeit

Film-Clip und Auswertung (15 Min)

Die TN sehen gemeinsam einen Kommentar von Anja Reschke (NDR) zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus in den ARD-Tagesthemen vom 27. Januar 2015 (Dauer 1:53) (Siehe Material). Die TV-Journalistin setzt sich darin mit der in der deutschen Bevölkerung weitverbreiteten Forderung auseinander, einen Schlussstrich unter die Geschichte der Judenverfolgung zu ziehen. Ihr Plädoyer für das Erinnern verbindet sie auch mit einer deutlichen Kritik an den fremdenfeindlichen Positionen der Pegida-Demonstrationen in Dresden.

Nach der Sichtung des Film-Clips werden zunächst Verständnisfragen geklärt. Bei Bedarf können die TN den Beitrag noch ein zweites Mal anschauen.

Anschließend resümieren und diskutieren die TN im moderierten Gespräch die im Kommentar vorgetragene Kritik. Dabei sollten die Teamenden darauf achten, dass die TN die kritisierte Schlussstrichforderung auch als eine Abwehr- und Verweigerungshaltung identifizieren und entsprechend problematisieren können, selbst wenn sie nicht alle der vorgebrachten Argumente teilen sollten.

 

Fragen

  • Was ist unter der Forderung nach einem Schlussstrich zu verstehen?
  • Ist euch so eine Forderung schon mal begegnet, und wo?
  • Welche Argumente gegen einen Schlussstrich bringt die Journalistin vor?
  • Findet ihr diese Argumentation nachvollziehbar?

 

Gruppenarbeit (40 Min)

Nach Diskussion und Auswertung des journalistischen Kommentars überlegen die TN in Kleingruppen (je zwei bis vier Personen) weitere Argumente gegen einen Schlussstrich. Jede dieser Gruppen erhält ein Arbeitsblatt mit einer Situationsbeschreibung und einem Arbeitsauftrag (siehe Material). Es stehen drei Situationen zur Auswahl, die zu gleichen Teilen unter den Kleingruppen verteilt werden, sodass mehrere Gruppen jeweils den gleichen Text bearbeiten. Die Aufgabe der TN besteht darin, eine fiktive Person bei der Suche nach Argumenten zu unterstützen.

Die Arbeitsgruppen haben jetzt etwa 20 Minuten Zeit, die Texte zu lesen und gemeinsam Argumente zu überlegen, die sie auf dem Arbeitsblatt notieren.

 

Das Zusammentragen der Ergebnisse erfolgt in einem moderierten Gespräch, in dem die drei Fallbeispiele nacheinander besprochen werden. Die Teamenden bitten zunächst eine beliebige Gruppe, ihren Text vorzulesen und ihre gesammelten Argumente zu präsentieren. Danach sind alle Gruppen, die dasselbe Beispiel bearbeitet haben, aufgefordert, weitere Argumente zu ergänzen. Im Anschluss daran werden das zweite und schließlich das dritte Beispiel präsentiert.

Die Teamenden schreiben die Antworten für alle drei Fallbeispiele am Flipchart oder an der Tafel mit, sodass eine gemeinsame Liste von Argumenten entsteht. Da eine mehrfache Nennung einzelner Argumente zu erwarten ist, sollte die Sammlung der Antworten eher zügig gestaltet werden.

 

Kurzvortrag (10 Min)

Abschließend halten die Teamenden einen kurzen zusammenführenden Vortrag, den sie in Form einer digitalen Präsentation an (Lein-) Wand oder Smartboard visualisieren (siehe Material).

Der Vortrag greift noch einmal die Frage nach (persönlicher) Schuld und (gesellschaftlicher) Verantwortung auf und problematisiert erneut die Schlussstrichforderung. Darüber hinaus führt er mit der Täter-Opfer-Umkehr („Die Juden sind selbst schuld“) kurz und knapp in ein zentrales Motiv des sekundären Antisemitismus ein, in dem die Abwehrreaktion gegenüber einer belasteten Vergangenheit mit Aggression gegen die Opfer einhergeht.

Quelle

KIgA e.V. (Hg.): Widerspruchstoleranz 2. Ein Methodenhandbuch zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit. Berlin 2017. PDF

 

 

Bildnachweis: püzz / photocase.de

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