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Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit

Rassismus und Antisemitismus

Phänomene wie Rassismus, Antisemitismus und Sexismus werden heute häufig im Begriff der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) zusammengefasst. In einigen Debatten werden sie aber auch gegeneinander ausgespielt und instrumentalisiert, um künstliche Konkurrenzsituationen zwischen Opfern gesellschaftlicher Diskriminierung und Abwertung zu schaffen. VON JAN HARIG

Eine Definition von Rassismus stammt vom tunesisch-französischen Soziologen Albert Memmi. Er beschreibt ihn als „die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.“1 Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und andere ähnliche Ansichten werden in Forschung und Bildungsarbeit oft unter dem Oberbegriff der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) zusammengefasst. Darunter versteht man verschiedene Formen von abwertenden Einstellungen und Haltungen, von Vorurteilen und Ressentiments gegenüber bestimmten Menschen und Menschengruppen.2

Debatten um die Anerkennung unterschiedlicher Formen von Diskriminierung

In der empirischen Einstellungsforschung wird die Verbreitung dieser verschiedenen Formen häufig gemeinsam untersucht. Doch das genaue Verhältnis der einzelnen Denkweisen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit untereinander und zueinander ist immer wieder Ausgangspunkt für kontrovers geführte Debatten, insbesondere bei den Themen Rassismus und Antisemitismus. Dabei geht es nicht nur um die Vergleichbarkeit, Parallelen und Unterschiede zwischen den beiden Phänomenen. Vielmehr werden in den Debatten häufig auch Fragen des nationalen oder religiösen Selbstverständnisses, Fragen von Anerkennung und Erinnerung sowie Fragen von gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnissen und Deutungshoheiten implizit oder explizit mitverhandelt.

Immer wieder geschieht es dabei, dass unterschiedliche Phänomene Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gegeneinander ausgespielt werden, zum Beispiel indem eine Form als problematischer als die anderen dargestellt wird. Hierbei kommt es zu einer Hierarchisierung, bei der eine unnütze Konkurrenzsituation zwischen Opfern gesellschaftlicher Abwertung und Diskriminierung geschaffen wird. Darüber hinaus können Rassismus und Antisemitismus dazu instrumentalisiert werden, um Stimmung gegen bestimmte Minderheiten zu schüren.

Zu beobachten ist dies etwa bei den Debatten um einen sogenannten arabischen muslimischen Antisemitismus in Deutschland. Im Zuge der Auseinandersetzung um islamisches Leben in Deutschland und neue Flucht- und Migrationsbewegungen wurden pauschal junge muslimische Männer als besondere Gefahr für jüdisches Leben in Deutschland ausgemacht. Verschiedene Politiker/innen bis weit in das liberale Lager hinein sahen sich dazu berufen, den ‚importierten‘ Antisemitismus anzuprangern und Mythos einer ‚christlich-jüdischen Wertegemeinschaft‘ zu beschwören, die es gegen eine ‚muslimische Bedrohung‘ zu verteidigen gelte. Die verhängnisvolle Geschichte und gesamtgesellschaftliche Verbreitung des Antisemitismus werden in dieser Argumentation demonstrativ ignoriert. Die konstanten Zustimmungswerte zu traditionellem, vor allem aber die hohen Zustimmungswerte zu sekundärem und israelbezogenen Antisemitismus beweisen allerdings, dass Antisemitismus in Deutschland kein alleiniges Problem einer muslimischen Minderheit ist. Andere Kritiker/innen wiederum beklagen eine Ungleichheit in der Anerkennung von Diskriminierungserfahrungen: Während die deutsche Mehrheitsgesellschaft für Antisemitismus sensibilisiert sei und diesen öffentlich verurteile, würde sie die Augen etwa vor antimuslimischen Rassismus verschließen. Manche erklären Muslime/innen gar zu ‚den neuen Juden‘, was nicht nur historisch falsch ist, sondern auch zweifelhafte Analogien und Erinnerungskonkurrenzen erzeugt.

Behandlung von Antisemitismus in der politischen Bildungsarbeit

Das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus wird auch in der politischen Bildungsarbeit diskutiert. Im Mittelpunkt steht die Frage, in welchem Rahmen Antisemitismus bearbeitet werden soll. Lange Zeit wurde er in der historisch-politischen Bildungsarbeit bzw. in der rassismuskritischen Bildungsarbeit als eine spezifische Unterform des Rassismus behandelt. Dies scheint auf den ersten Blick plausibel: Beides sind Formen ressentimentbehafteten Denkens, denen eine Ideologie der Ungleichwertigkeit des Menschen zu Grunde liegt. Beide konstruierten Fremd- und Eigengruppen, denen verschiedene Wertigkeiten und spezifische, vermeintlich unveränderliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Gruppenkonstruktionen erfolgen dabei anhand von kulturalisierenden und/oder biologistisch-rassistischen Merkmalen, denen erst im Konstruktionsprozess besondere Bedeutung verliehen wird. Sowohl im Rassismus als auch im Antisemitismus kann darüber hinaus das Phänomen der Projektion beobachtet werden, welches Aufschluss über unterdrückte Fantasien ihrer Träger/innen liefert.

Parallelen und Unterschiede

Ein weiterer Grund für eine vermeintlich plausible Gleichsetzung der unterschiedlichen Phänomene liegt in deren Geschichte begründet. Sowohl Rassismus als auch Antisemitismus unterliegen beständigen Veränderungen und Transformationen, insbesondere hinsichtlich ihres Begründungszusammenhangs. Seit dem späten 18. Jahrhundert wurden zur Begründung und Legitimierung von Gewalt und Ungleichheit, von Macht- und Herrschaftsansprüchen und zur Erklärung sozialer Phänomene vermehrt auch die Naturwissenschaften herangezogen. Biologismus, Sozialdarwinismus und Rassenideologien begründeten nicht nur den modernen Rassismus, sondern veränderten auch den Antisemitismus - dieser wandelte sich von einem religiös begründeten Antijudaismus zu einem primär biologisch-rassistisch begründeten Antisemitismus. Durch die historische Deckungsgleichheit dieser beiden Entwicklungen erscheint es häufig so, als wären diese Phänomene identisch, auch wenn sie auf ganz eigene und unterschiedliche Entwicklungsgeschichten und (Denk-)Traditionen fußen.

Bei allen Gemeinsamkeiten gibt es zwischen diesen beiden Ideologien der Ungleichwertigkeit relevante Unterscheidungsmerkmale, die dafürsprechen, beide Phänomene sowohl hinsichtlich ihrer historischen Entwicklung, als auch in ihren aktuellen Ausprägungen, Motiven und Strukturen getrennt zu analysieren und zu bearbeiten. Der gravierendste Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus besteht wohl in ihren Feindbildkonstruktionen: Im Rassismus werden die von ihm Betroffenen zumeist abgewertet, als primitiv, triebgesteuert, gewaltsam usw. verurteilt. Während die Eigengruppe als überlegen angesehen wird, wird die rassistisch konstruierte Fremdgruppe als minderwertig dargestellt. Auch im Antisemitismus erfahren ‚die Juden‘ auf der einen Seite eine kollektive Abwertung, auf der anderen Seite aber zeitgleich eine merkwürdige Überhöhung. ‚Juden‘ gelten, dem antisemitischen Denken nach, als extrem mächtig, als ‚omnipotente Drahtzieher‘ und als gerissene Verschwörer/innen, die über ihren vermeintlichen Einfluss auf die Politik, die Medien und die Finanzmärkte insgeheim die Geschicke der Welt lenken. Sie können somit für alles Böse der Welt verantwortlich gemacht werden. Wir haben es hierbei mit einer Bewunderung und Verachtung gleichermaßen zu tun: Antisemiten/innen verachten ‚die Juden‘ und alle, die sie dazu machen für die Macht, die sie ihnen zuschreiben. Zeitgleich übt aber eben diese Macht, gerade weil sie nichts mit der Realität, sondern vielmehr mit eigenen verdrängten Wünschen zu tun hat, eine enorme Faszination auf sie aus. Während der Rassismus also vor allem die Unterlegenheit ‚der Anderen‘ behauptet, unterstellt der Antisemitismus ‚jüdische Übermacht‘ und erklärt sich die Gesellschaft durch das vermeintliche Wirken ‚von Juden‘ und nimmt somit die Form einer sinnstiftenden Welterklärung an.

Eigenständige Phänomene

Gerade diese Unterscheidung macht es notwendig, Antisemitismus und Rassismus als eigenständige Phänomene in ihrem spezifischen gesellschaftlichen und politischen Kontext zu betrachten. Sich ergebende Allianzen sind dabei genauso zu fördern wie falschen Unterstellungen energisch zu begegnen: Weder schützen eigene Rassismus-Erfahrungen davor, sich antisemitisch zu äußern – oder andersherum – noch ist es hilfreich, Rassismus oder Antisemitismus ausschließlich bei ‚den Anderen‘ zu suchen. Beide Phänomene sind, nach Ergebnissen der empirischen Vorurteilsforschung, weit verbreitete Einstellungs- und Denkmuster in der gesamten deutschen Bevölkerung, die dazu noch häufig korrelieren: Wer sich rassistisch äußert, stimmt auch häufig antisemitischen Aussagen zu und umgekehrt.

 

Jan Harig ist Mitbegründer und war bis 2019 Redakteur von „Anders Denken – Die Onlineplattform für Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit“

Anmerkungen

1 Albert Memmi: Rassismus. Frankfurt am Main 1992, S. 164.

2 Vgl. Eva Groß/Andreas Zick/Daniela Krause: Von der Ungleichwertigkeit zur Ungleichheit: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 16/17 (2012), S. 11-18. Online/PDF Beate Küpper/Andreas Zick: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. In: Dossier Rechtsextremismus. Hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) 2015. Online

 

Zum Weiterlesen

Antisemitismus im Kontext von Rassismuskritik thematisieren, Überblick 4/2017 (IDA-NRW). PDF

Sina Arnold: „Which side are you on?" Zum schwierigen Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus in der Migrationsgesellschaft. In: Naika Foroutan/Juliane Karakayali/Riem Spielhaus (Hg.): Postmigrantische Perspektiven: Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Frankfurt am Main 2018.

Gideon Botsch/Olaf Glöckner/Christoph Kopke/Michael Spieker (Hg.): Islamophobie und Antisemitismus – ein umstrittener Vergleich. Berlin 2012.

Monique Eckmann: Rassismus und Antisemitismus als pädagogische Handlungsfelder. In: Fritz Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hg.), Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus. Frankfurt am Main 2006, S. 210-232.

Meron Mendel/Tom David Uhlig: Challenging Postcolonial. Antisemitismuskritische Perspektiven auf postkoloniale Studien. In: Meron Mendel/Astrid Messerschmidt (Hg.): Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt am Main 2017, S. 249-267.

Gunnar Meyer: Antisemitismus vs. Rassismus? Entstehungsgeschichten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In: Multikulturelles Zentrum Dessau e.V. (Hg.): Dokumentation Fachtagung: Aktueller Antisemitismus. Dessau-Roßlau 2012, S. 20-31. PDF

Judith Rahner/Jan Riebe: Antisemitismus und Rassismus. Gemeinsamkeiten, Unterschiede und pädagogische Interventionen. In: Milena Detzner/Ansgar Drücker/Sebastian Seng (Hg.): Rassismuskritik. Versuch einer Bilanz über Fehlschläge, Weiterentwicklungen, Erfolge und Hoffnungen. Düsseldorf 2016, S. 128-132. PDF

Yasemin Shooman: Zur Debatte über das Verhältnis von Antisemitismus, Rassismus und Islamfeindlichkeit. In: Katharina Rauschenberger/Werner Konitzer (Hg.): Antisemitismus und andere Feindseligkeiten. Interaktionen von Ressentiments. Frankfurt am Main 2015, S. 125-156.

 

 

Bildnachweis: rawpixel / unsplash.com

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